Menschen im Ruhrgebiet helfen sich nach Unwetter gegenseitig
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Ruhrgebiet.. Am Tag nach der Orkan-Nacht geht’s ans Aufräumen. Überall im Revier helfen die Menschen einander, denn es gibt viel zu tun. Die meisten sind froh, mit dem Schrecken davon gekommen zu sein, als sie am Morgen das ganze Ausmaß der Verwüstung sehen.
Werner Bos hatte den kleinen Sohn auf dem Schoß, er sollte einschlafen, aber damit ist es natürlich sofort vorbei, als eine Tanne runterkommt. „Plötzlich gab es einen Riesenknall, und dann lag der Baum vor der Tür“, erinnert sich der Bochumer. Und dann fiel der nächste Baum in der Berliner Straße. Und der nächste. „Sowas habe ich noch nicht gesehen.“
Jetzt, zwölf Stunden nach dem Sturm des Jahrhunderts, kann man schon wieder halbwegs hier fahren. Es staut sich, man muss auch kurven, aber im weitesten Sinne liegen die Bäume irgendwie am Straßenrand: und nicht mehr kreuz und quer, wie noch um Mitternacht. „Bis halb zwei haben wir hier aufgeräumt, wir standen kniehoch im Wasser“, sagt Bos: „Aber was für eine Nachbarschaft!“
Menschen im Ruhrgebiet haben die Ärmel aufgekrempelt
In dieser Nacht und am Morgen nach diesem Sturm hat das Ruhrgebiet die Ärmel aufgekrempelt. In die Hände gespuckt und angepackt. Es ist das Phänomen, das die Flutgebiete aus dem Osten kennen: dass hilft, wer kann, obwohl man sich nicht einmal kennt, dass Hilfe gar vor Selbsthilfe steht. In Oberhausen ist das zu sehen, in Essen-Borbeck, Menschen greifen zur Motorsäge und befreien Autos, schneiden wieder Schneisen in die Grünanlage nebenan, wo Baumwurzeln und Baumkronen ihr Verhältnis umgekehrt haben. Fremde grüßen einander, andere Fremde kommen problemlos ins Gespräch. Wetter ist immer ein Thema? Unwetter erst!
So wie sie am Morgen besorgt zusammenstehen, taten sie es auch am Abend in ihrer Angst. Von „Angst“ sprechen die Leute tatsächlich, die solches Wüten noch nicht sahen. Andrea K. aus Mülheim, die auf dem Weg zur Nachtschicht nach Düsseldorf links und rechts die Bäume knicken sah und für sich selbst im vom Wind angehobenen Auto keinen Ausweg. Tamara aus Mülheim, die die Akazie auf ihre Garage krachen, das Wasser in den Keller laufen hörte - und durch die geschlossenen Fenster ins Kinderzimmer. Wie sich schützen vor dem Biegen der Bäume, die wild in alle Richtungen wogten? Die meisten trauten sich in der Nacht gar nicht mehr auf die Straße; das Wetterleuchten wollte nicht aufhören, die dumpfen Schläge stürzender Äste, immer wieder drohten Böen, die nicht nur Zweige durch die Straßen trieben.
Die sich im Auto auf den Weg machen am frühen Morgen, die erleben eine Art Slalom. Vorbei an den vielen umgestürzten Bäumen, die Straßen verengen und Spuren sperren. Vorsichtig vorbei an abgesperrten Straßenstücken, wo schon wieder eine Oberleitung durchhängt; „Feuerwehr-Sperrzone“ steht auf dem rot-weißen Flatterband. Vorbei an überfluteten Abschnitten, weil die Kanalisation das alles nicht mehr schlucken kann. Vorbei an leeren, verschlossenen Straßenbahnen: Sonntagabend haben viele Verkehrsgesellschaften erst die Fahrgäste in Sicherheit gebracht, dann die Fahrer – und dann das Gefährt stehen lassen auf offener Straße. Ein bisschen gespenstisch sieht das aus am Morgen, ein bisschen, ja, apokalyptisch.
Und wer das alles geschafft hat, Bäume und Seen und Sperrzonen und alles, der endet hinter der Kurve bestimmt vor einem quer stehenden Streifenwagen: Nein, hier können Sie definitiv nicht weiter. Dahinter schuften die Kerle vom Technischen Hilfswerk. Irgendwas mit Sägen.
Dieser Sturm war schlimmer als "Kyrill"
Über 1000 Einsätze meldet Dortmund, wo der Sturm eine über 100-jährige Linde ausgerechnet auf den Eingang der Städtischen Kliniken warf, wo der Revierförster am Morgen sagen wird, dieser „Christian“ sei schlimmer gewesen als „Kyrill“ – wo es aber auch eine gute Gartenlauben-Geschichte gibt: die von Sieben, die nur leicht verletzt unter dem Baum hervorkrochen, der das Häuschen geplättet hatte.
Sturmschäden in Kettwig und Werden
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In Bochum stürzte ein Baum auf einen Linienbus, verletzte aber niemanden, auf ein leeres Auto legte sich eine schwere Ampel – dabei war der kleine Renault gerade erst geschmückt worden mit einer Schnur von Deutschland-Fähnchen. In Essen hat eine Platanenallee wohl kaum eine heile Platane mehr. Düsseldorf rät ab, überhaupt besucht zu werden – zu viele Bäume liegen im Weg. Am Essener Baldeneysee werden alle Wege gleich voll gesperrt: Lebensgefahr! 40 Liter hat es in Bochum in nur einer Stunde geregnet - das macht vier Putzeimer. Die könnte man jetzt gebrauchen.
Tausende Reisende in den Hauptbahnhöfen gestrandet
Und die Helfer dazu. Aber Tausende kommen nicht an diesem Tag, sind gestrandet auf verstopften Straßen, vor Autos, die unter Bäumen beerdigt wurden, an den Bahnhöfen. In Dortmund, wo Bahn-Mitarbeiter Taxi-Gutscheine ausgeben – nur sind keine Taxis da, sondern unterwegs, und wenn eines kommt, ist gar nicht sicher, dass der Fahrer den Gutschein auch akzeptiert. Im Duisburger Hauptbahnhof, wo die Stimmung durch stundenlange Warterei auch nicht besser wird: Ob man noch weg kommt, und wann – alles bleibt lange unklar. In Essen, wo die Leute in langen Schlangen vor dem Info-Schalter warten, denn die elektronische Anzeige zeigt Unsinn an: „Bitte Aushangfahrplan beachten.“ Bahn-Mitarbeiter organisieren Auto-Fahrgemeinschaften („Noch jemand nach Duisburg? Dann jetzt her“), aber am besten spiegelt noch folgender Dialog die ungewisse Lage. Tritt eine Frau mit einer Frage heran, sagt zum Bahn-Bediensteten: „Hallo, schönen guten Tag“ – und bevor sie sich erläutern kann, sagt der: „Geht nicht.“
„Ich hab viel erlebt mit Sturm, aber das ist das Heftigste, was ich je gesehen hab“, sagt auch Jürgen Koskowski an seiner Hofeinfahrt. Vor ihm auf der Straßenkreuzung liegt eine halbe Baumkrone Platane, hinter ihm steht die Garage der Vermieterin, deren Tor der Sturm durchbrochen hatte – Koskowski hat das notdürftig repariert. Eigentlich hat er auch gar keine Zeit, will in den Garten, „jetzt woll’n wir mal ein bisschen aufräumen, so gut es geht“ – und deutet an, er habe bei der Vermieterin etwas gut zu machen. Irgendwas mit Lärm, mit lauter Musik. Sturm macht gute Nachbarn.
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