Essen. Die Mixed-Reality-Stadtführung ins Essen des Jahres 1887 zeigt, was alles möglich ist – technisch und kreativ. Andere Städte wollen nachziehen.

Vor dem Essener Hauptpostamt steht ein magisches Tor. Es hat einen kunstvollen Rahmen und wabert ein wenig, wie man sich magische Tore so vorstellt. Wer hindurch tritt, landet im Jahr 1887. An die Stelle der modernen Post treten niedrigere, alte Gebäude, solche aus der Postkutschenzeit. Und da rattert ja auch eine das Kopfsteinpflaster herunter. Nicht jeder kann das Magische Tor sehen. Dafür braucht man schon eine Mixed-Reality-Brille.

Die bekommt man bei der Touristeninfo, wenn man ein Ticket für „Essen 1887“ für 25 Euro gebucht hat. Mit der stark abgetönten Brille auf der Nase, Kopfhörern in den Ohren und einem Handy samt Akku um den Hals geht es auf eine Stadtführung der wirklich neuen Art. Eine zweite digitale Ebene liegt nun über der Essener Innenstadt, die Navigation im halbtransparenten Bildschirm der Brille schwebt vor uns und leitet uns zu zwei Dutzend Stationen, an denen sich Realität und Vergangenheit mischen.

Auch Stolpersteine bekommen eine digitale Erweiterung

Und plötzlich steht das alte Rathaus wieder ...
Und plötzlich steht das alte Rathaus wieder ... © Unbekannt | EMG

Eine Weltneuheit verspricht das Stadtmarketing. Natürlich gibt es bereits viele Touren in Städten oder Museen, die auf „Augmented Reality“ setzen. Dabei hält man sein Handy zwischen sich und einen historischen Ort, und Figuren oder Videos oder auch Gebäude werden eingeblendet. So bekommen die Stolpersteine, die an Opfer des Holocaust erinnern, gerade eine digitale Ebene. Mit der App „Stolpersteine NRW“ lassen sich historische Fotos, Hörspiele oder auch ein Strauß Blumen einblenden – ein gewaltiges Unterfangen in Arbeit, in NRW liegen 15.000 Stolpersteine.

In Köln und vier weiteren Städten bietet „TimeRide“ ebenfalls Zeitreisen an. Der Besuch in realen nachgestalteten Räumen ergänzt hier die Hauptattraktion, eine virtuelle Straßenbahnfahrt durch das Köln der 1920er Jahre oder eine Busfahrt zum Checkpoint Charlie an der Berliner Mauer in den 80ern. Doch die Straßenbahn fährt nicht wirklich, sondern rumpelt in einem Studio auf der Stelle. Der Besucher sieht im Grunde nur einen gut gemachten 3D-Film in einer Virtual-Reality-Brille. Die Wirklichkeit wird ausgeblendet.

Hier und da ein Fehler in der Matrix

Essen und die Düsseldorfer Firma Neonreal als Produzent haben ein deutlich anderes Erlebnis geschaffen. Hier erscheint der digitale Zeitungsjungen tatsächlich auf der Einkaufsstraße, und man kann um ihn herum laufen, während er die Beerdigung von Alfred Krupp verkündet, die den losen Rahmen der Handlung vorgibt. Man bückt sich zu seinem Zeitungsstapel und kann die Annoncen lesen. Vor dem Postamt ein Stillleben, Konfetti schwebt in der Luft, und ja, man kann zwischen Figuren und Papierschnipseln umherwandern wie Neo in der „Matrix“, dem Science-Fiction-Film, in dem unsere Welt eine Computersimulation ist, die man verlangsamen kann.

Tatsächlich hat auch die Essener Simulation noch hier und da einen Fehler in der Matrix, mal ruckeln die Figuren zu nah heran, mal schieben sie sich nach oben. Eine Szene friert uns ein, aber das sind wohl Kinderkrankheiten, versprechen die Macher. Mit etwas Wohlwollen gewöhnt man sich auch an das Zittern der eingeblendeten Inhalte. Denn die Positionierung findet nur über GPS statt, erklärt Neonreal-Geschäftsführer Jan Thiel. Bald soll die Technik soweit sein, dass die Brillen Gebäude und Objekte erkennen und ihre Projektionen daran ausrichten kann. Bislang muss der Tourist mithelfen. Angekommen an einer Station, sagt die Brille einem, wohin man ungefähr schauen soll. Hält man den Zielkreis still, lädt der Film.

Wir schauen ihm über die digitale Schulter

Die 257ers sehen sich selbst im virtuellen Raum.
Die 257ers sehen sich selbst im virtuellen Raum. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Aber die Technik fasziniert schon jetzt. Da, das alte Rathaus, steht wieder an der Kettwiger Straße und drängt den Klamottenladen in den Hintergrund. Ja, wir treten sogar ein in eine Amtsstube, können darin umhergehen, und wenn wir dem Beamten über die digitale Schulter schauen, sehen wir, dass er gerade einen Schluck aus der Pulle nimmt. Leben bringen Schauspieler in die Bude: In aufwendig gefilmten 3D-Szenen philosophiert Henning Baum als Kneipenwirt über den Durst der Krupp-Arbeiter. Tatjana Clasing als Wilhelmine Grillo will der aufstrebenden Stadt ein Theater schenken. Sterne-Koch Nelson Müller parliert humorvoll über die Zukunft der Gastronomie in der Arbeiterstadt. Und das Kupferdreher Rap-Duo „257ers“ hat einen kurzen, aber legendären Auftritt als Straßenmusikanten. Und auch hier kann man sich tatsächlich unter das virtuelle Volk mischen.

Natürlich schauen Touristiker aus ganz Deutschland aufmerksam auf das Essener Experiment. „Wir sind auch dabei, uns zu überlegen, was wir mit den neuen Formaten machen können“, erklärt Sigrun Späte, Sprecherin von DortmundTourismus. - Eine Zeitreise am Borsigplatz womöglich? – „Sicher kann man in Dortmund keine Geschichte erzählen, in der der BVB nicht vorkommt.“ Aber Späte denkt eher an Industriekultur, an Stahlwerke die wieder glühen und dröhnen, so dass die Arbeiter zur Frühstückspause in ihren ausgepolsterten Spinden Ruhe suchen. „Das könnte man alles wieder zeigen. Oder man kann auch etwas spielerisches machen. Die einzigen Grenzen sind die finanziellen.“

Mit Pokémon Go hat alles begonnen

Dass Augmented Reality zum Wirtschaftsfaktor werden kann, hat Dortmund bereits 2019 erlebt, als 150.000 Fans aus aller Welt zum „Pokémon-Go-Fest“ in den Westfalenpark pilgerten. „Wenn man eine moderne Stadt sein will, muss man mit diesen Technologien umgehen. Es ist auch ein Imagegewinn“, sagt Sigrun Späte. Und ein wirtschaftlicher. Die Kosten für „Essen 1887“ sind nicht bekannt, aber ein 25-köpfiges Neonreal-Team hat daran ein halbes Jahr gearbeitet, plus Externe. Der Aufwand war wegen der Schauspielszenen groß, aber auch weil all die historischen Gebäude möglichst originalgetreu nachgeahmt werden sollten. Die Pläne aber waren teils verbrannt im Zweiten Weltkrieg, es gab nur noch alte Fotos. Die Tour war jedoch schon vor Start fast ausgebucht auf zwei Monate, das Stadtmarketing erwartet schwarze Zahlen.

Da trampelt plötzlich dieser Tyrannosaurus Rex die Kettwiger Straße nieder. Das passt zwar nicht ins Konzept, aber der Gag ist doch recht eindrucksvoll. Und vermutlich hat er kaum etwas gekostet, denn der Dino kam aus dem digitalen Fundus. Und er beweist, das alles möglich ist. „Die Welt ist die Leinwand“, sagt Jan Thiel. „Man kann einfach seine Fantasie spielen lassen.“ Eine Action-Jagd durch die Alte Mitte Oberhausens? Theaterstücke, bei denen auch das Bühnenbild mit dem Publikum spielt. Ein Konzert mit Musikern, die zum Teil nur eingeblendet werden. Oder ganz – so wird man wohl in hundert Jahren noch Abba sehen können. In London entsteht gerade eine eigene Arena, um dort junge Avatare des schwedischen Pop-Quartetts auftreten zu lassen. Wirklich nur die digital nachgebaute Anni-Frid & Co.

Aber zunächst will Neonreal das Zeitreise-Format in weitere Städte bringen, Gespräche dazu sollen schon laufen. Und im Herbst bekommt Essen auch schon die zweite virtuelle Attraktion. Mit „Aufwind 1912“ will Neonreal die Anfänge der Fliegerei erlebbar machen, damals starteten die ersten Frauen durch, vom Ruhrgebiet aus. Allerdings wird sich diese Reise eher in einem Studio abspielen, mit Windmaschine und beweglichen Sitzen. Draußen wird es auch langsam wirklich voll. Könnte man alle in einer App abbilden, stapeln sich auf dem Essener Burgplatz bereits Pokémon, Frau Grillo und die betenden Pixelmännchen aus einem Kunstwerk der Düsseldorfer AR-Biennale. Und das ist wahrscheinlich erst der Anfang.