Ruhrgebiet. Absurd: Noch bevor sie überhaupt schwanger ist, schaut sich manche Frau heute nach einer Hebamme um. Denn die sind rar. Kliniken spüren das auch.
Exakt 773.144 Babys kamen 2020 in Deutschland zur Welt, 170.038 von ihnen in NRW. Wie viele Hebammen es ist im Land gibt, weiß dagegen niemand genau. Es gibt keine generelle Meldepflicht. Sicher ist nur: Es sind zu wenige. „Flächendeckend gruselig“, lautet Barbara Blomeiers Einschätzung der Situation. Sie ist Vorsitzende des Hebammenverbands NRW, dem mit 4500 Mitgliedern größten in Deutschland.
Tatsächlich mussten Essener Uniklinik wie Velberter Helios Klinikum Niederberg in den vergangenen Wochen immer wieder werdenden Mütter bescheiden: Bei uns könnt Ihr Euer Kind nicht bekommen, wir sind vorübergehend dicht. Hauptgrund in beiden Fällen: Hebammenmangel. Die Schwangeren wurden umgehend von anderen Krankenhäusern in der Nähe aufgenommen, an der Grundmisere ändert das aber nichts. Dabei wollen doch so viele junge Frauen (und längst auch einige Männer) diesen Beruf ergreifen. 619 Bewerberinnen kamen im Wintersemester 20/21 auf die 56 Plätze im Studiengang „Hebammenkunde“ an der Hochschule für Gesundheit in Bochum, so Sprecherin Judith Merkelt-Jedamzik.
„Von der Kopfzahl her sind wir besser denn je aufgestellt….“
Bloß: die, die schon Hebamme sind, die wollen oder können nicht mehr. Immer mehr reduzieren ihre Stundenzahl oder kündigen ihren sicheren Job an der Klinik; viele verabschieden sich zudem ganz aus der Geburtshilfe, übernehmen als Freiberufliche nur noch Vor- und Nachsorge Schwangerer. Die Zahl der Geburten indes: sie steigt.
„Von der Kopfzahl her sind auch wir besser denn je aufgestellt“, sagt Barbara Blomeier, „aber trotzdem hört man von überall: zu wenig Hebammenleistung abrufbar.“ Im Schnitt, so die im Dezember veröffentlichte bislang größte Studie zum Thema (HebAB.NRW, Hochschule für Gesundheit Bochum) kontaktiert eine Schwangere mehr als vier Hebammen, bevor sie eine findet, die bereit ist, sie im Wochenbett zu betreuen. Fast acht Prozent der 1800 Befragten mussten demnach sogar mehr als zehn Hebammen anrufen. Das führe, sagt Blomeier, „zu der Absurdität, dass sich einige Frauen inzwischen eine Hebamme schon suchen, bevor sie überhaupt schwanger sind….“.
Studie schätzt: 8790 Schwangere von Klinik abgewiesen
Es sei tatsächlich schwer, die momentane Situation in NRW oder im Ruhrgebiet einzuschätzen, räumt Rainhild Schäfers ein, Professorin für Hebammenwissenschaft an der Bochumer Hochschule und eine der Autorinnen der HebAB-Studie. „ Eher anekdotisch kann ich berichten, dass wir immer wieder von Kolleginnen gebeten werden, Stellenanzeigen zu veröffentlichen. Woraus ich schließe, dass der Bedarf an Hebammenversorgung in NRW längst nicht gedeckt ist, sowohl in der Klinik als auch in der Außerklinik.“
Die Krankenhäuser, sagt Hebamme Blomeier, seien besonders betroffen. Auch ein Gutachten des IGES-Forschungsinstituts („Stationäre Hebammenversorgung“) belegt, dass schon 2018 ein Drittel der befragten Geburtskliniken mindestens eine Schwangere abgewiesen haben. Hochgerechnet auf ganz Deutschland seien 8790 Frauen betroffen gewesen, heißt es in der Studie. Gleichzeitig hätten 57 Prozent der Kliniken freie Hebammenstellen nicht besetzen können.
Klage: Zu viele fachfremde Aufgaben, zu wenig Zeit für Gebärende
Hebammen, sagt Blomeier, litten vor allem darunter, dass sie neben ihrer „Kerntätigkeit“ immer häufiger „fachfremde“ Aufgaben übernehmen müssten: Reinigungsarbeiten etwa. „Nachts sind die Putzfrauen nicht da, aber nach der einen Geburt muss der Kreißsaal vor der nächsten ja wieder hergerichtet werden. Und dann kratzt eben die Hebamme mit der Zahnbürste die Scharniere sauber.“ Hebammen müssten aber auch in der Ambulanz aushelfen oder dem Chefarzt in der Sprechstunde assistieren. Man bürde ihnen zudem zu viele Verwaltungs- und Dokumentationspflichten auf, heißt es im IGES-Gutachten; die Arbeitsbelastung sei hoch, Überstunden kaum abbaubar und das Gehaltsniveau dafür zu niedrig.
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„Hebammen gehen auf dem Zahnfleisch“, fasst Barbara Blomeier zusammen. „Und die heutige Generation lässt sich das nicht mehr bieten. Die jungen Hebammen wollen ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht werden, sich den Gebärenden widmen, sich nicht zerreißen müssen.“ Das zeige sich daran, dass Kliniken mit guten Arbeitsbedingungen sehr viel weniger Probleme hätten, Personal zu finden. Kliniken etwa, die „im Idealfall sogar Hebammen-geführte Kreißsäle einrichten.
„Hebammenversorgung ist ein gesellschaftlicher Auftrag“
Die Arbeitszufriedenheit der Hebamme mehr in den Blick zu nehmen, könnte dem Mangel entgegenwirken, meint auch Prof. Schäfers. Ein Weg dorthin sei die Einstellung von Fachkräften, die Arbeiten abseits der Geburtsbetreuungen in Kliniken übernehmen können. Die Hebammenversorgung müsse zudem „als gesellschaftlicher Auftrag verstanden werden“, dürfe „nicht von marktwirtschaftlichen Überlegungen getriggert werden.“
Die Autorinnen der HebAB-Studie fordern darüber hinaus die flächendeckende Einrichtung und Finanzierung von Hebammenzentralen – als niedrigschwelliges Angebot für Schwangere und Wöchnerinnen in den Kommunen. Sie plädieren – wie der Hebammenverband – für eine 1-zu-1-Betreuung aktiver Geburten in Kliniken und die finanzielle Unterstützung freiberuflicher Hebammen. Bayern etwa zahle 5000 Euro Niederlassungsprämie.
>>>> Ausbildung und „Hinzuziehungsplicht“
Bis 1.1. 2020 war Hebamme ein Ausbildungsberuf. Seither muss an einer Hochschule studieren, wer Hebamme werden will. In NRW ist das etwa in Bochum, Düsseldorf und Köln möglich. Mindestens 300 Studienplätze sollen geschaffen werden. Zu wenig, sagt die Bochumer Studie.
Dass die Ausbildung jetzt „vollakademisiert“ ist, findet Barbara Blomeier vom Hebammenverband NRW „absolut richtig“. Es sei „hochnotpeinlich“, dass Deutschland als letztes Land der EU diesen Schritt ging.
In Deutschland darf laut Hebammengesetz eine Hebamme eine normal verlaufende Geburt alleine leiten. Ärzte dagegen müssen eine Hebamme hinzuziehen, auch bei Kaiserschnitten.