Essen. Seit nunmehr zwei Jahren ist der Krater unterhalb des Pico do Fogo auf den Kapverdischen Inseln die Heimat des Deutsch-Türken Mustafa und seiner Familie. Stolz präsentiert der ehemalige Europameister im Speed-Klettern sein außergewöhnliches Dorf und nimmt Touristen mit auf Klettertouren.

Wie durch einen fruchtbaren Garten schlendert er von Baum zu Strauch. Hier ein Apfel, dort eine Papaya oder Tomate. Selbst beste Weinreben gedeihen hier prächtig – in der Chã das Caldeiras, einem riesigen halbkreisförmigen Felskessel in 1600 Metern Höhe gelegen und mit einem Durchmesser von neun Kilometern. Der Krater unterhalb des Pico do Fogo auf den Kapverdischen Inseln ist die neue Heimat von Mustafa, dem Deutsch-Türken aus Aachen, der seit zwei Jahren mit seiner Frau Marisa und Sohn Sam im gleichnamigen Dorf Chã das Caldeiras lebt.

Stolz zeigt Mustafa, der ehemalige Europameister im Speed-Klettern, auf sein Dorf, in das er sich „bestens integriert“ hat, wie er immer wieder bestätigt. Kein Wunder, denn er ist ein wahrer Spezialist im Integrieren: Mustafa spricht acht Sprachen fließend. Auch sein Deutsch ist akzentfrei. In einem ostanatolischen Dorf geboren und aufgewachsen, kam der Kletterprofi nach Deutschland, um Bauingenieur zu werden. Nach dem Studium spezialisierte er sich auf Sicherungsbefestigungen.

"Der Krater vermittelt Geborgenheit und Freiheit zugleich.“

Sein Wissen führte ihn auf die Kapverden, wo er im Auftrag der Deutschen Entwicklungshilfe die Via Ferrata anlegte, ausbaute und sicherte. Den Kammweg oberhalb der Bordeira – jener steilen Felswand, die den Felskessel von Süden nach Westen hin begrenzt. Ein Einsatz, der sein Leben veränderte : Während der Arbeiten lernte er Marisa kennen. Nach anderen Einsätzen weltweit kehrte er ein gutes Jahr später in den Krater zurück. „Ich fühle mich hier zuhause. Der Krater vermittelt Geborgenheit und Freiheit zugleich.“ Das sagt einer, der drei Jahre lang Besitzer eines Around-the-world-Tickets war und durch die Welt jettete, um neue Klettersteige auszukundschaften. Doch man glaubt es ihm.

Am Pico Pequeño, einem kleinen Vulkan, der 1995 ausbrach, hält Mustafa inne. Von seinem Gipfel aus sieht man tief in den Schlund hinein, aus dem die Lava sprühte. Im Umfeld ist das Lavagestein noch heute so warm, dass ein Knäuel Reisig sofort Feuer fängt. Und der Blick wandert hinüber zum Dorf unterhalb, vor dem die Lavamassen zum Stillstand kamen. Alle 1300 Einwohner wurden evakuiert, erst sechs Monate später seien die ersten wieder ins Dorf zurück gekehrt. Der Ort blieb weitgehend unversehrt, doch die Lava zerstörte Anbauflächen. Für die Rückkehrer bedeutete dies einen Neuanfang.

Marisa ist wie der Krater: Vereinnahmt und lässt los 

Wie für Marisa. Sie erfüllte mit dem Aufbau einer eigenen Pension ihren Traum. Die zehn Zimmer und das Restaurant bestellt sie mit ihrer Schwester und den beiden Cousinen. Ideal für Mustafa, der sich nun ganz seiner Lieblingsbeschäftigung widmen kann: Seinen Sohn in den Schlaf zu wiegen. Für seine Frau findet der 39-jährige Athlet eine passende Beschreibung. „Sie ist wie der Krater – vereinnahmt und lässt los, wenn es sein muss. Eine wohltuende Mentalität.“ Auch im Kraterinnern lebt man nicht weltentrückt, auch hier verändert sich das Verhältnis der Geschlechter. Die Frauen stehen auf eigenen Beinen. Wie Marisa, die vormacht wie es geht.

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Auch Mustafa gilt im Dorf als Vorbild. Er ist zum Hoffnungsträger für viele junge Männer in Chã geworden. Er übt mit ihnen das Bouldern, das Klettern ohne Seil und Gurt, lehrt sie als Führer auf Tour zu gehen und die Geschichte ihres Pico zu erzählen. Mustafa spricht wie ein Vater über „seine Jungs“. Abends, wenn die Sonne versinkt und nur der Stromgenerator brummt, verteilt er Tipps für den nächsten Morgen, wenn sie bei Sonnenaufgang mit Touristen zur Besteigung des Pico aufbrechen, dem mit 2829 Metern zweithöchsten Berg im Nordatlantik. Ein Erlebnis, von dem Mustafa in höchsten Tönen schwärmt. Doch vielmehr begeistert ihn der Abstieg, der bei ihm zur Abfahrt gerät. Mit seinem Snowboard schweift er elegant die 1000 Höhenmeter über das Aschefeld hinab. Andere Pico-Besteiger hüpfen oder rutschen herunter und lassen sich vom Staub einlullen.

Die Bar Ramiro eint das Dorf

Zurück ins Dorf führt der Weg vorbei an bizarren Stricklava-Formationen. Im Hintergrund die Lavafelder der letzten Ausbrüche von 1951und 1995. Die niedrigen Häuser aus Naturstein sind einfach gebaut, selten verputzt. So gelten sie als nicht fertig und sind steuerfrei. Auf den Dächern befinden sich kleine Sammelflächen, in denen das wenige Regenwasser aufgefangen wird. „Im September hat es den ganzen Monat geregnet“, sagt Mustafa. „Das muss für ein ganzes Jahr reichen.“ Im Ort eine Rotkreuzstation, eine Schule, Kirchen, die Weinkooperative und die Bar Ramiro – eine Institution vor der erhabenen Kulisse des Pico. Hier wird getrunken, gesungen und manchmal auch getanzt. Die Bar eint das Dorf, weil sie beide Ortsteile auf halbem Weg verbindet. Von hier sind es nur noch ein paar Schritte bis zur Poseida Marisa.

Die Gastgeberin hat bereits Gemüse von den Feldern der fruchtbaren Vulkanerde geerntet und eine besondere Speise zubereitet, dazu einen Cha do Fogo. Und während Mustafa mit Sohn Sam verschwindet, erzählt Marisa mit eigenen Worten, wie es damals in der Nacht des 3. April 1995 war. Als erst die Erde bebte und dann sechs Wochen lang die Lava strömte.