Göttingen. . In den USA ist es erstmals gelungen, das individuelle Bewegungs- und Reiseverhalten einzelner Personen in mathematischen Modellen darzustellen. Pandemien sollen damit schneller vorhergesagt werden. Ältere Modelle überschätzten die Ausbreitung.

Ob SARS, Schweine- oder saisonale Grippe in der globalisierten Welt können sich Infektionskrankheiten durch reisende Menschen leicht über den gesamten Erdball ausbreiten. Um auf diese Gefahr gezielter reagieren zu können, versuchen Wissenschaftler, Ausbreitungswege und -geschwindigkeit solcher so genannter Pandemien vorherzusagen. Forschern des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS) in Göttingen, der Universität Göttingen, der Northwestern University und des Massachusetts Institute of Technology (MIT).

In den USA ist es nun erstmals gelungen, das individuelle Bewegungs- und Reiseverhalten einzelner Personen in ihren mathematischen Modellen zu berücksichtigen. Die neuen Rechnungen zeigen nicht nur, dass ältere Modelle die Ausbreitungsgeschwindigkeit deutlich überschätzt hatten.

Mensch breitet Seuchen aus

Auch die bisher bekannten Kriterien für den globalen Ausbruch einer Krankheit müssen erweitert werden. Die neue Studie wurde von der American Physical Society ausgewählt, als erster Artikel in der Erstausgabe ihres neuen High-Profile Journals Physical Review X zu erscheinen.´Die wichtigste und zugleich komplexeste Unbekannte bei Vorhersagen über die Ausbreitung einer Seuche ist der Mensch. Denn alles hängt davon ab, welche Wege eine infizierte Person zurücklegt; wo sie auf weitere Menschen trifft, die sie anstecken könnte. Tritt eine erkrankte Person beispielsweise einen Langstreckenflug an, ergibt sich ein völlig anderes Bild, als wenn sie lediglich ins Nachbardorf fährt.

Modell erklärt Reiseverhalten

Bisher wurde das Bewegungsverhalten der Menschen in den Modellen recht grob berücksichtigt, weil man nicht wusste, wie man dies mathematisch besser erfassen könnte, erklärt Theo Geisel, Direktor am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. In unserem Modell können wir nun erstmals die Mitglieder einer Population als Individuen mit unterschiedlichem Reiseverhalten beschreiben. Ältere Modelle umgingen dieses Problem. Sie nahmen vereinfachend an, dass sich eine Infektion nach den Gesetzen der Diffusion ausbreitet also ähnlich wie ein eingefärbtes Gas, das aus einem Behälter entweicht.

Neue Studien untermauern anderes Verhalten

Dass in der globalisierten Welt aber neben kurzen Reisen auch solche über weite Strecken möglich sind, berücksichtigten diese Modelle nicht, so Dirk Brockmann von der Northwestern University. Doch selbst jüngere Ansätze, die interkontinentale Reisen einbeziehen, bilden nicht alle Aspekte menschlichen Reiseverhaltens ab. Denn die Mitglieder einer Population wurden bisher nicht als Individuen mit eigenen Reisezielen betrachtet. Stattdessen nahmen die Modelle vereinfachend an, dass im Laufe der Zeit jede Person alle erreichbaren Orte aufsucht. Neue Studien, welche die Grundlage der jüngsten Berechnungen bilden, untermauern ein anderes Verhalten mit Daten.

Nur wenige Orte außerhalb der Wohnung

Die meisten Menschen suchen nur wenige Orte außerhalb der eigenen Wohnung regelmäßig auf, etwa den Arbeitsplatz, den nahe gelegenen Supermarkt oder den Kindergarten. Ein Besuch etwa bei Verwandten im nächsten Bundesland findet deutlich seltener statt, die Fernreise nach Mexiko ist eine Ausnahme. Und die allermeisten Ziele steuern die meisten Menschen nie an.

Für jedes Individuum ergibt sich so ein eigenes Mobiltätsnetzwerk, das sich aus der begrenzten Anzahl seiner Reiseziele zusammensetzt. In ihren Modellen setzten die Forscher nun individuelle sternförmige Netzwerken an: Ausgangspunkt einer jeden Reise ist die eigenen Wohnung. Vor der Rückkehr dorthin wird nur ein Ziel angesteuert.

Rückkehren an den Ausgangsort

Gerade dieses Rückkehren an den Ausgangsort wurde in bisherigen Modellen nicht berücksichtigt, so Vitaly Belik, der am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und am MIT forscht. Der neue Ansatz liefert ein kompliziertes System von Gleichungen, welches die Forscher mithilfe trickreicher Mathematik und in aufwändigen Computersimulationen untersuchen konnten. Nicht die Häufigkeit, sondern die Dauer von Reisen ist entscheidend Unsere Rechnungen zeigen, dass mit zunehmender Mobilität der Individuen die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Krankheit nicht wie bisher angenommen immer weiter anwachsen kann, so Geisel.

Schnelligkeit wurde überschätzt

Schließlich verändere ein höheres Reiseaufkommen nicht die grundsätzliche Beschaffenheit der Netzwerke. Und ob eine Person beispielsweise den Weg zur Arbeit einmal oder zweimal am Tag zurücklegt, beeinflusst die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Epidemie nur wenig. Ältere Modelle hatten deshalb die Schnelligkeit der Ausbreitung von Seuchen erheblich überschätzt. Neue Erkenntnisse ergaben sich auch für die Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit eine Epidemie von einer Population auf eine weitere überspringt also sich etwa von einem Kontinent auf den nächsten ausbreitet. Bisher hatte man geglaubt, dass allein die Häufigkeit von Fernreisen ausschlaggebend ist, so Brockmann.

Reisedauer ist entscheidend

Doch nun zeigt sich vielmehr eine bedeutendere Abhängigkeit: Die Dauer der Reisen spielt eine entscheidende Rolle. Erst wenn die mittlere Dauer der Abwesenheit einen bestimmten Wert überschreitet, kann aus der Epidemie eine globale Pandemie werden. Es kommt also gewissermaßen nicht darauf an wie oft man reist, sondern wie lange man unterwegs ist, so die Wissenschaftler. Mit dieser Forschungsarbeit startet die American Physical Society (APS) in eine neue Ära des Open-Access Publizierens.

Autoren werden unterstützt

Die neue Studie wurde von der APS ausgewählt, als erster Artikel in der Erstausgabe ihres neuen Open-Access Journals Physical Review X zu erscheinen. Im Unterschied zu traditionellen Wissenschaftszeitschriften werden hier die wissenschaftlichen Arbeiten weltweit allen Lesern per Internet kostenfrei zugänglich gemacht. Die Arbeit von Belik, Geisel und Brockmann wird an exponierter Stelle zusammen mit vier weiteren Artikeln in der Erstausgabe publiziert, da die Wissenschaftler mit Methoden der theoretischen Physik grundlegend neue Erkenntnisse zur Ausbreitung von Seuchen gewonnen haben. Zwei Autoren der Studie werden derzeit von der VolkswagenStiftung in der Förderinitiative Neue konzeptionelle Ansätze zur Modellierung und Simulation komplexer Systeme unterstützt: Vitaly Belik mit einem Fellowship Computational Sciences, Dirk Brockmann mit einer Projektförderung.

Reise-Weisheiten

0038532341-0057105937.JPG
0038532340-0057105938.JPG
0038532339-0057105939.JPG
0038532334-0057105940.JPG
0038532333-0057105941.JPG
0038532331-0057105942.JPG
0038532330-0057105943.JPG
0038532323-0057105944.JPG
0038532322-0057105945.JPG
0038532317-0057105946.JPG
0038532316-0057105947.JPG
0038532315-0057105948.JPG
0038532313-0057105949.JPG
0038532312-0057105950.JPG
1/14