London. .
Rindfleisch wurde zum Landenhüter, auch Gummibrächen gerieten ins Zwielicht: Vor zehn Jahren erschütterte die Rinderseuche Deutschland. Im November 2000 wurde hierzulande der erste BSE-Fall registriert. Ein Rückblick.
Eine „nationale Tragödie“ nannte der britische Landwirtschaftsminister Nick Brown im Jahr 2000 die Rinderseuche BSE. Eine Untersuchungskommission legte einen Bericht vor, der auf gravierende Versäumnisse der Verantwortlichen hinwies. Hunderttausende Tiere fielen der Epidemie zum Opfer. Und mindestens 170 Menschen im Land sind bis heute an der vom Rinderwahn ausgelösten Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gestorben.
Noch 1990 hatte Browns Amtsvorgänger John Gummer britisches Rindfleisch als „absolut sicher“ bezeichnet. Vor laufenden Fernsehkameras nahm er einen kräftigen Bissen von einem Burger. Auch seine vierjährige Tochter Cordelia musste abbeißen. Wissenschaftler warnten zu diesem Zeitpunkt schon vor der Möglichkeit der Übertragung von BSE auf den Menschen. Aber die Fleischindustrie war ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Regierung wollte Panik vermeiden.
Am Anfang war „Kuh 133“
Zehn Jahre später rechnete der von Lord Phillips verantwortete Bericht schonungslos ab. Von Vertuschung ist dort die Rede: „Heute ist klar, dass die Kampagne der Beruhigung ein Fehler war“, hieß es im Jahr 2000. Am Anfang steht 1984 die „Kuh 133“: Farmer Peter Stent aus Sussex ruft einen Tierarzt, eines seiner Rinder spielt verrückt. Doch der Veterinär kann nichts machen. So etwas hat er noch nie gesehen. Inmitten der ländlichen Idylle starrt er einer Katastrophe in die Augen, wie es die britische Zeitung „The Observer“ später beschreiben wird. Im Februar 1985 stirbt die „Kuh 133“. Nach Analyse des Kadavers in einem staatlichen Labor erhält die Krankheit ihren Namen: Bovine Spongiforme Enzephalopathie.
Der Phillips-Bericht kommt zu dem Schluss, dass die „schwammartige Hirnkrankheit“ vermutlich bereits in den 70er-Jahren infolge einer Genmutation bei einem Tier auftrat. Eine Epidemie habe sich entwickeln können, weil Überreste kranker Tiere als sogenanntes Tiermehl zu Futter verarbeitet wurden. Bei rechtzeitigem Eingreifen hätte zumindest das Ausmaß der Epidemie eingegrenzt werden können, erklärte der Bericht.
Die Öffentlichkeit wird vorerst nicht informiert
Im Juni 1987, kurz vor der zweiten Wiederwahl von Premierministerin Margaret Thatcher, gibt es bereits mindestens sechs gesicherte BSE-Fälle im Land. Die Regierung weiß Bescheid. Die Öffentlichkeit wird aber vorerst nicht informiert. Auch die Tierärzte, die in den landwirtschaftlichen Betrieben mit immer neuen Fällen der Rinderkrankheit zu tun haben, werden nicht über typische Symptome oder die mögliche Tragweite der Gefahren aufgeklärt. Die Zahl der infizierten Kühe steigt immer weiter. Anfang 1988 sind es schon über Tausend. Das Problem lässt sich nicht mehr unter den Teppich kehren. Schlachthäusern werden strengere Regeln auferlegt, Tiermehl darf nicht mehr verfüttert werden. Denn Experten vermuten, dass eine neue, billigere Produktionsmethode des als Futter genutzten Mehls ohne ausreichende Erhitzung der Seuche Vorschub geleistet hat.
Die Kontrollen bleiben jedoch lasch. Und der Export des gefährlichen Futters bleibt erlaubt. Erst ab November 1989 dürfen dann Gehirn, Rückenmark und Milz von geschlachteten Tieren nicht mehr in die Produktion von Nahrung für den Menschen gelangen, weil sie als maßgeblich für die Übertragung von BSE gelten. Im Mai 1995 stirbt der erste Mensch an einer neuen Variante der Creutzfeldt Jakob-Krankheit. Nach Angaben einer staatlichen Überwachungsstelle folgen in der zweiten Jahreshälfte zwei weitere. Im Jahr darauf sind es schon zehn Todesfälle. Im März 1996 macht es der Gesundheitsminister Stephen Dorrell offiziell: Angesichts der Ähnlichkeit der Symptome müsse von einer Übertragung des unbekannten Erregers von Rindern auf den Menschen ausgegangen werden.
Ausfuhrverbot für britisches Rindfleisch
Die Europäische Kommission verhängt ein weltweites Ausfuhrverbot für britisches Rindfleisch. Der einstige Exportschlager „british beef“ taugt nur noch für die Verbrennungsanlage. Drei Jahre bleibt das Embargo bestehen. Die Regierung beziffert die Verluste auf deutlich über zwei Milliarden Euro. Anfang 1999 wird das Exportverbot unter Auflagen wieder aufgehoben. Die britische Fleischindustrie ist in Feierlaune. Regierungsbeamte beteiligen sich medienwirksam an offiziellen Grillfesten. Reisende aus Frankreich werden am Londoner Bahnhof Waterloo mit kostenlosen Fleischröllchen begrüßt. Der Bauernverband zeigt sich optimistisch, verlorene Märkte und das Vertrauen der Verbraucher zurückzugewinnen.
Das Festland beäugt die Feierlaune auf der Insel jedoch mit Skepsis. Frankreich verweigert bis 2002 die Aufhebung des Embargos. Auch die Bundesregierung zögert zunächst mit der Wiederaufnahme der Einfuhr von britischem Rindfleisch. Nicht ganz zu unrecht, wie sich noch zeigen sollte: In Deutschland fing die von Großbritannien ausgehende BSE-Katastrophe ein Jahr später erst richtig an. (dapd)