Düsseldorf. Fast zwölf Jahre nach der Duisburger Loveparade schlägt eine Experten-Kommission Änderungen im Strafgesetz vor – wie eine neue Verjährungsfrist.

Zwei Anläufe hat die juristische Aufarbeitung der Loveparade von Duisburg gebraucht, zwei Gutachter, mehr als zwei Verhandlungsjahre. Und doch endete der Prozess im Mai 2020 ohne Urteil – und für die Betroffenen also „mit einer Enttäuschung“, wie NRW-Justizminister Peter Biesenbach wohl weiß. Den „nicht wirklich befriedigenden Abschluss“ wollte die Politik nicht so stehen lassen, sie ließ eine Expertenkommission ausloten, was wie künftig besser geht. Zwei weitere Jahre später legen namhafte Juristen nun Vorschläge vor: Zur „Verbesserung der Aufklärung komplexer Unglücksereignisse“ fordern sie etwa eine neue Verjährungsfrist.

„Eines der schlimmsten Unglücke in der Geschichte Nordrhein-Westfalens“ nennt Biesenbach, nennt auch der Kommissionsvorsitzende Clemens Lückemann, pensionierter ehemaliger Generalstaatsanwalt und Oberlandesgerichtspräsident, die Tragödie vom 24. Juli 2010: Damals starben auf dem Weg zur Technoparty in Duisburg 21 junge Menschen im Gedränge, Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt. Aber als die Rechtswissenschaftler noch die Prozessakten durchforsten, internationale Experten und 45 Prozessbeteiligte befragen, die an 184 Sitzungstagen des aufwendigsten Strafprozesses in Deutschland dabei waren – da ereilt das Land schon wieder eine Katastrophe: das Hochwasser vom Juli 2021. Daraus und aus weiteren großen Verfahren etwa um die Explosion von Enschede, das Gletscherbahn-Unglück von Kaprun oder den Einsturz der Eishalle von Bad Reichenhall zieht die Kommission eine erste Lehre: Die Loveparade war „nicht nur ein tragischer Einzelfall“.

Wegen der Größe der Verfahrens musste das Duisburger Landgericht für den Loveparade-Prozess ins Düsseldorfer Congress Centrum umziehen.
Wegen der Größe der Verfahrens musste das Duisburger Landgericht für den Loveparade-Prozess ins Düsseldorfer Congress Centrum umziehen. © Funke Foto Services | Jakob Studnar

„Kernstück des deutschen Strafprozesses, in der die Wahrheit erforscht“

Weshalb sie die ermittelnden und aufklärenden Kollegen stärken, sogar das Strafrecht verändern will. Diesen zentralen Punkt nennt Lückemann erst zum Schluss: Die Hauptverhandlung „als Kernstück des deutschen Strafprozesses, in der die Wahrheit erforscht und der Sachverhalt aufgeklärt (…) werden sollen mit dem Ziel des gerechten Urteils“, dürfe nicht „unter dem Damokles-Schwert einer möglichen Verjährung stehen“. Im Fall der Loveparade dräute dieser Termin seit dem ersten Verhandlungstag; um die Verjährung aufzuheben, hätte es eines Urteils bis Ende Juli 2020 bedurft. Der Zeitdruck verhandelte immer mit, auch wenn die ruhige Verhandlungsführung des Vorsitzenden Richters versuchte, diesen Eindruck zu zerstreuen.

Das sei, so die mehrheitliche Meinung der Kommission, in der auch Prof. Julius Reiter als Nebenkläger-Anwalt und Prof Björn Gercke als Verteidiger im Loveparade-Prozess beteiligt waren, mit Gerechtigkeit „unvereinbar“ und dem „Rechtsfrieden nicht zuträglich“. Bei den Betroffenen führe solcher Termindruck zu „tiefgreifender Enttäuschung über Justiz und Rechtsstaat“. Von einer „Scheinverhandlung“ spricht Richter a.D. Lückemann sogar, ein „Hauruck-Verfahren“ passe nicht zur Würde eines Gerichts. Vorschlag also: Künftig soll eine Verjährung vom Tisch sein, sobald die Hauptverhandlung beginnt; der Dauer des Prozesses wäre dann keine Grenze mehr gesetzt.

Es bleibt „viel Aufklärungsbedarf“

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Doch ist das nur ein Aspekt im 20-Punkte-Plan, an dem weitere ehemalige Topjuristen wie Essens früherer Chefankläger Walther Müggenburg, Düsseldorfs Generalstaatsanwalt Horst Bien und auch viele junge Wissenschaftlerinnen mitwirkten. Gefordert wird, dass in Zukunft nicht nur die strafrechtlichen Ursachen aufgeklärt, sondern auch organisatorische Schwachstellen und weitere Faktoren, die ein Unglück begünstigt haben, in den Blick genommen werden. Das war ja in Duisburg ein Problem: dass am Ende niemand zu bestrafen war, obwohl Fehler gemacht wurden. „Um den strafrechtlichen Kern herum“, sagt Lückemann, „bleibt viel Aufklärungsbedarf.“

Dafür empfiehlt die Kommission eine länderübergreifende Einrichtung zur „Unfall-Untersuchung“, die auch vorsorglich arbeiten soll, also ähnliche Ereignisse verhindern. Das sei im Sinne der Opfer, argumentieren die Experten. Tatsächlich haben Wissenschaftler um den Loveparade-Gutachter Prof. Jürgen Gerlach ein Regelwerk für Großveranstaltungen erst im Januar vorgelegt. Auch das bezog sich unter anderem auf Erfahrungen des Duisburger Technofestes.

Staatsanwälte als spontanes Einsatzteam

Richter a.D. Clemens Lückemann (l.) überreicht NRW-Justizminister Peter Biesenbach am Montag in Düsseldorf den Abschlussbericht der Experten-Kommission.
Richter a.D. Clemens Lückemann (l.) überreicht NRW-Justizminister Peter Biesenbach am Montag in Düsseldorf den Abschlussbericht der Experten-Kommission. © dpa | Federico Gambarini

Weiter schlagen die Juristen vor: den Einsatz speziell ausgebildeter Opfer-Staatsanwälte zur Betreuung der Betroffenen und zur Entlastung der Ermittler sowie einen Mindestbetrag als Schadenersatz, ohne dass Opfer diesen einklagen müssten. Auch mehr Personal wird gefordert: Gerichts-Manager, Staatsanwälte als Bereitschaftsteam, wissenschaftliche Mitarbeiter für Landgerichte, Pressesprecher, die auch die sozialen Medien bedienen („sonst verabschieden wir uns von einem immer größer werdenden Teil der Gesellschaft“). Zudem sollten eine Aufarbeitung von Prozessen zum Standard gemacht, der Austausch zwischen Kammern verstärkt, den Justizangehörigen Coaching-Angebote gemacht und eine Datenbank für Sachverständige aufgebaut werden.

Eine „Fundgrube an neuen Erkenntnissen“ nennt Justizminister Peter Biesenbach den Bericht der Kommission. Was damit nun geschieht, ist allerdings noch offen: eine Gesetzesinitiative im Bundesrat, Veränderungen in NRW, mehr Geld für bessere Ausstattung der Gerichte? Es gebe „keinen politischen Streit“, sagt der CDU-Mann und im Juni die nächste Justizminister-Konferenz. Manches sei „leicht umzusetzen“, manche Sachverhalte aber seien so komplex, „dass Zeit nötig ist“.