Ruhrgebiet. Elfeinhalb Jahre nach der Duisburger Loveparade erscheint ein neues Regelwerk für Großveranstaltungen. Es soll helfen, Unglücke zu vermeiden.

Der Veranstaltungsort nicht geeignet. Niemand, der das rechtzeitig gemerkt hat. Und die „unkoordinierte Steuerung von Personenströmen“: Das waren nach Einschätzung des Prozessgutachters Gründe, warum die Loveparade 2010 in Duisburg so schrecklich endete – mit 21 Toten und Hunderten Verletzten. Elfeinhalb Jahre danach legt eine Gruppe von Wissenschaftlern um Prof. Jürgen Gerlach nun ein neues Regelwerk vor, mit dem vergleichbare Fehler in Zukunft verhindert werden sollen.

Wer kommt wann und für wie lange? Wo entlang geht er wieder und mit welchem Verkehrsmittel? Wie viele Menschen passen überhaupt durch die Tore, wie viele Autos auf den Parkplatz, wie lange dauert die Einlasskontrolle: Eintrittskarte, Glas, neuerdings Impfnachweis? Es hat für diese Dinge bislang wenig Regeln gegeben, auch weil es wenig Erkenntnisse gab. Man wusste ja lange gar nicht als Veranstalter, dass man das alles wissen muss. In Deutschland, sagt Gerlach, der an der Bergischen Universität Wuppertal lehrt und forscht, gab es zum sogenannten Crowdmanagement sogar: nichts. Dass die vor der Loveparade bestehenden Verordnungen, etwa die Muster-Versammlungsstättenverordnung, Lücken hat, war deshalb ein wesentliches Thema der Aufbereitung nach der Technoparty, die für einige im Gedränge tödlich endete.

Durch diesen Tunnel kamen die Besucher der Loveparade, durch diesen Tunnel sollten sie ihn auch wieder verlassen. Es kam zum tödlichen Gedränge. Am 11. Jahrestag des Unglücks brennen Kerzen mit den Namen der 21 Todesopfer.
Durch diesen Tunnel kamen die Besucher der Loveparade, durch diesen Tunnel sollten sie ihn auch wieder verlassen. Es kam zum tödlichen Gedränge. Am 11. Jahrestag des Unglücks brennen Kerzen mit den Namen der 21 Todesopfer. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Sieben Jahre Forschungsarbeit

Um Notfälle, Notausgänge, Evakuierungen, um Gewitter oder Feuer kümmerten sich diese Papiere, nicht aber um die Fragen der Personenströme, um den Weg von Besuchern „von Haustür zu Haustür“, wie Gerlach sagt. „Längst überfällig“ nennt er deshalb, was nun noch in diesem Monat erscheint: die „Empfehlungen zum Verkehrs- und Crowdmanagement für Veranstaltungen“. Ein wissenschaftlich fundiertes Werk, erarbeitet von 20 Experten, aber auch eine praktische Handreichung: mit Checklisten, Beispielen, Bildern. Was ist zu tun bei welcher Art von Ereignis, was ist wichtig für Planung und Genehmigung, wer hat für was die Verantwortung – all das ist aufgelistet und belegt, auch anhand von bereits evaluierten Veranstaltungen: Kirmes, Weihnachtsmarkt, Rockkonzert. Bei allem geht es um die Sicherheit.

Sieben Jahre haben die Forscher an ihrem Regelwerk gearbeitet, ehrenamtlich im Auftrag der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV). Und ihr Wort hat Gewicht: Die Empfehlungen aus der Arbeitsgruppe Verkehrsplanung werden bei künftigen Planungen, Genehmigungen, aber auch Streitfällen berücksichtigt, sind vor Gericht anerkannt. Für das Bundesverkehrsministerium gilt die FGSV als „Regelwerkserstellungs-Gesellschaft“, was hier geschrieben wird, wird als Stand der Technik betrachtet. „Es empfiehlt sich“, sagt Prof. Gerlach und meint Veranstalter wie Kommunen, „von den Anforderungen nicht beziehungsweise nur aus triftigen Gründen abzuweichen“. Wer es doch tut, solle das, etwa im Sicherheitskonzept für eine Veranstaltung, schriftlich begründen.

Ein Erlebnis des „Schlenderns, Verweilens, Tanzens“

Sachverständiger im Loveparade-Prozess: Prof. Jürgen Gerlach.
Sachverständiger im Loveparade-Prozess: Prof. Jürgen Gerlach. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Eine „Veranstaltung“ ist für die Autoren, „eine (positive) Emotionalität und oftmals eine hohe Erwartungshaltung“. Letztere beziehe sich auf das „gesamte Erlebnis einschließlich der An- und Abreise mit Verkehrsmitteln, der Fußwegetappen und des Schlenderns, Verweilens, Tanzens, Stehens oder Sitzens auf Publikumsflächen“. Schon diese Formulierung lässt an die Loveparade denken, und ihre Lehren, das bestätigt Gerlach, seien in das Regelwerk eingeflossen. Sie sei sogar „wesentlicher Auslöser“ gewesen. Der Professor für Verkehrsplanung hat den Gerichtsprozess als Gutachter begleitet (und in dieser Zeit seine Arbeit für die FGSV ruhen lassen). In seinem abschließenden, mehrere tausend Seiten starken Gutachten nannte er als Ursache für das tödliche Gedränge unter anderem, dass die Besucherströme nicht richtig berechnet und gesteuert wurden.

240 Seiten Handreichung für die Veranstaltungs-Planung

Dass diese Fehler bei der Planung und auch in der Durchführung am Veranstaltungstag tatsächlich ursächlich für die „tragischen Ereignisse“ waren, wie Gerlach sie meistens nennt, war 2015 noch nicht klar, als die Wissenschaftler mit ihrer Arbeit begannen. Es sei auch ihm erst mit der Erstellung des Gutachtens deutlich geworden. Das Gerichtsverfahren wurde endgültig im Mai 2020 eingestellt. Erst danach arbeitete der Experte seine Erkenntnisse in die neuen Empfehlungen ein, ganz wichtig dabei: dass künftig genau zu prüfen sei, ob sich ein Veranstaltungsort, seine Zuwege und seine Sicherheitskontrollen für eine bestimmte Anzahl von Personen überhaupt eignen. Die Loveparade ist in dem 240 Seiten starken Papier nur ein Beispiel. Tageszeiten, Beschreibung und eine Zeichnung beziehen sich aber eindeutig auf das Gelände auf dem alten Güterbahnhof mit den beiden Tunneln, durch die die Raver damals kommen und gehen sollten.

Doch mit dem neuen Regelwerk ist die Arbeit der Wissenschaftler noch nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Zur Planung und Steuerung von Menschenmengen soll bei der FGSV ein weiterer Arbeitsausschuss entstehen, der die bisherigen Regeln vertiefen und regelmäßig aktualisieren soll. Zur Begründung schreiben die Experten, es gebe unter anderem Wissenslücken bei der Planung etwa von Bahnhöfen oder städtischen Anlagen, auch hier besonders was An- und Abreise von Personen betrifft. Zuständigkeiten seien nicht eindeutig verteilt. Gerade in Großstädten und Ballungsräumen, heißt es, seien Menschenmengen auch außerhalb von Veranstaltungen besondere Herausforderungen, etwa weil Bahnsteige und Haltestellen an ihre Kapazitätsgrenzen kämen und sich mehr Menschen zusammenfänden. Als Beispiel werden hier die Demonstrationen von „Friday for Future“ genannt. Gerlach ergänzt auch die aktuellen Entwicklungen durch die Pandemie: „Die Corona-Kontrollen sind bislang bundesweit nirgends abgestimmt.“