Bochum. Altlasten? Von wegen. Unter dem Ruhrgebiet liegt ein Schatz vergraben, der die Wärmeversorgung der Zukunft sicherstellen könnte.
Früher musste die Wärme hier von innen kommen. Von 16.000 mitfiebernden Fans zum Beispiel, als die SG Wattenscheid 09 ab 1990 vier Jahre lang in der Fußball- Bundesliga spielte. Mittlerweile ist das 1954 eröffnete Lohrheidestadion mit seinen offenen Tribünen und der angeblich besten Stadionwurst Deutschlands in die Jahre gekommen. Zukünftig sollen hier neben Fußballspielen vor allem internationale Leichtathletikmeisterschaften stattfinden, was momentan nirgendwo sonst in NRW möglich ist. Und das schon bald: Bereits im Sommer 2025 werden in Wattenscheid die Leichtathletikwettbewerbe der FISU World University Games stattfinden.
Dafür ist ein umfangreicher Umbau nötig, zu dem auch eine innovative Klimaanlage für den neu geschaffenen Loungebereich gehört, in dem es künftig 800 Zuschauende auch im Winter angenehm warm haben werden. Auch dort wird die Wärme aus dem Inneren kommen: aus 150 Meter tiefen Bohrlöchern.
Mit Sommerwärme im Winter heizen
Die sind seit Anfang April bereits fertiggestellt. Weil es so viel geregnet hat, ruhen heute die Arbeiten. Auf dem Weg über die weniger matschige Baustraße zum Trainingsbereich neben dem Stadion weist Raphaela Klug nach unten. „Hier verlaufen bereits die Leitungen von der Anlage zum Stadion“, erklärt die Projektleiterin der Baustelle. Angekommen auf dem Wurfplatz der deutschen Speerelite – Bochum-Wattenscheid ist einer von Deutschlands Olympiastützpunkten, an denen sich Kaderathleten auf die Spiele in Paris vorbereiten – werden unterarmbreite Leitungen sichtbar, die bündelweise offen zutage liegen. Angeschlossen sind sie an einen weißen Kunststoffbehälter.
An diesem sogenannten Verteilerschacht laufen alle Leitungen zusammen, 19 gen Norden, 19 weitere gen Westen. 38 Löcher mit jeweils 150 Metern mussten dafür gebohrt werden. Frank Peper, Hauptabteilungsleiter Fernwärme, Wasser und Energieprojekte bei den Stadtwerken Bochum, erklärt, wie die neue Anlage funktioniert. Schlaufenförmig führen die Leitungen zuerst Flüssigkeit herunter zum tiefsten Punkt. Ungefähr 12 Grad herrschten dort das ganze Jahr über.
Über Erdwärmesonden erhitzt sich das eingeleitete Wasser, das über den Verteilerschacht dann gebündelt in das Stadion geleitet wird. Damit es im Winter genutzt werden kann, erhitzt eine Wärmepumpe das Gemisch dann noch etwas weiter. Ein Teil des Stroms dafür soll aus der neuen Photovoltaik-Anlage auf dem Dach der Tribüne kommen.
Was die Geothermieanlage mit ihren 38 Erdwärmesonden besonders effektiv macht, erklärt Timm Eicker von der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie IEG, die den Stadtwerken bei der Planung hilft: Im Winter werde die Wärme aus dem Untergrund der Wärmepumpe zugeführt, im Sommer, wenn die Räume im Stadion klimatisiert werden, gelangt sie von oben zurück ins Erdreich. „Es gibt keine andere Technik, die Wärme über ein halbes Jahr speichert“, sagt der Experte für oberflächennahe Geothermie.
Teure Anschaffung, günstig im Betrieb
Für das bevölkerungsstärkste und von energieintensiver Industrie geprägte Bundesland hat NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) nun einen ambitionierten Masterplan vorgelegt: Bis zu einem Fünftel des gesamten Wärmebedarfs, privat und industriell, soll bis 2045 mit geothermischen Anlagen wie in Wattenscheid gedeckt werden.
Der Masterplan Geothermie NRW
Mit dem „Masterplan Geothermie NRW“ hat die Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie Mona Neubaur (Grüne) Anfang April ein ambitioniertes Maßnahmenpaket zum beschleunigten Ausbau der Geothermie in Nordrhein-Westfalen vorgelegt. Das Ziel: Bis 2045 sollen 15 bis 20 Prozent des Wärmebedarfsim Bundesland mit geothermischen Anlagen gedeckt werden.
Die Vorteile der in Deutschland noch recht wenig verbreiteten Technologie: Erdwärme ist unendlich vorhanden und kann das ganze Jahr über schwankungsunabhängig und preisstabil gewonnen werden.
Erreicht werden soll der massive Ausbau mit Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen, die vor allem Kommunen und Stadtwerke adressieren. Unter anderem soll die Datenlage mittels landesweiter Probebohrungen verbessert werden. Neue Förderrichtlinien sollen die Planung erleichtern, die teils komplizierten Genehmigungsverfahren vereinfacht werden, Mitarbeitende bei Behörden und in der Industrie weitergebildet werden.
Vor allem die mitteltiefe und tiefe Geothermie (bis 5000 Meter) soll im Bundesland erstmals in großem Maßstab erprobt werden. Eine Hürde sind hier bislang die hohen Investitionskosten und das sogenannte Fündigkeitsrisiko. Dazu hat das Land gemeinsam mit der NRW Bank Fördermittel bereitgestellt, die bis zu 45 Prozent der Investitionskosten abdecken sollen. Im Falle von nicht erfolgreichen Bohrungen müssen diese teilweise oder gar nicht zurückgezahlt werden.
Bundesweit erzeugten oberflächennahe und tiefe Geothermie-Anlagen 2022 1,5 Prozent des gesamten Wärmebedarfs, wie aus Zahlen des Informationsdienstes Wissenschaft hervorgeht. Vorreiter bei tiefer Geothermie ist Bayern. Nach Zahlen des Bundesverbands Geothermie laufen derzeit 42 tiefe Geothermieanlagen in Deutschland, davon vier in NRW und 25 in Bayern.
Eine Hürde für einen schnellen Ausbau geothermischer Anlagen sind zunächst die recht hohen Investitionskosten. Frank Peper von den Stadtwerken Bochum rechnet exemplarisch vor: Ein Bohrmeter koste vor Ort um die 83 Euro, bei 38 Bohrlöchern mit 150 Metern Tiefe kommt man auf Baukosten von 473.100 Euro – nur für Löcher und Leitungen.
Bis sich eine Anlage wie in Wattenscheid amortisiert, müsste sie deswegen lange, sommers wie winters, laufen, erklärt Timm Eicker von der Fraunhofer-Gesellschaft. „Zum Heizen der Umkleidekabinen an einigen Tagen im Jahr lohnt sie sich nicht“, sagt Eicker. Immerhin fallen die hohen Bohrkosten nur einmal an: Die Lebensdauer der verlegten Leitungen schätzt der Fachmann auf mindestens einhundert Jahre. Tauscht man die im Stadion untergebrachte Technik auch über die Jahre aus – die verlegten Leitungen können weiter genutzt werden.
Papierkarten weisen den Weg zum Stollen in über 800 Metern Tiefe
Im oberflächennahen Bereich bis 400 Meter sei die Gesteinsbandbreite im Ruhrgebiet überschaubar, sagt Eicker. Ein sogenanntes Fündigkeitsrisiko gibt es hier nicht: Wer bohrt, wird in entsprechender Tiefe Wärme im Gestein finden. Bei tiefer Geothermie, die heißes Wasser etwa für Fernwärme nutzt, ist die Lage anders. „Wir kennen den Untergrund hier im Ruhrgebiet einfach gar nicht“, sagt Frank Peper. Er rechnet mit etwa 15 Millionen Euro für nur eine Bohrung in 4000 Metern Tiefe – ohne Garantie, dann auch auf Wasser zu stoßen. „Für uns Stadtwerke ist das ein zu großes Risiko“, sagt Peper.
Zwar ist der Boden im tieferen Bereich im Ruhrgebiet bislang weitestgehend unerforscht, umso besser sieht es dafür weiter oben aus. So liegen nur 50 Meter unter den jetzt installierten Wärmesonden Stollen aus dem Bergbau, die in teils sehr alten Bergamtskarten exakt verzeichnet sind. Jene, die noch etwas tiefer liegen, sind mit warmem Wasser gefüllt und können angezapft werden – so geschehen beim anderen großen Geothermieprojekt der Bochumer Stadtwerke.
Auf dem ehemaligen Opel-Werksgelände wurden Stollen einer bereits in den 50er-Jahren geschlossenen Zeche in 340 und 810 Meter Tiefe erfolgreich angebohrt. „Das Risswesen ist schon sehr beeindruckend, das ist enorm“, sagt Eicker anerkennend. Wären die historischen Karten, auch Risse genannt, die so alt wie der Bergbau selbst sind, weniger genau: Man hätte wohl vorbei gebohrt.
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Die Technik war lange kein Thema
Die Altlasten des Bergbaus haben so enormes Potenzial für die Wärmeversorgung im Ruhrgebiet. Dass die Geothermie in Deutschland noch nicht weiter vorangeschritten ist, habe vor allem einen Grund, sagt Timm Eicker: „Das liegt einfach an den günstigen Gaspreisen“. 150-Meter-Bohrungen wie in Wattenscheid, das sei der „absolute Ideal-Standard“ – relativ erprobt, machbar. Aber für Anlagen im großen Maßstab fehle es an Personal, das Genehmigungsrecht sei kompliziert, die Abläufe sehr individuell, besonders ab 150 Metern. „Da wird es sehr eng“, sagt Eicker, und spricht damit den Mangel an Knowhow und Manpower bei Verwaltungen und Bohrunternehmen an.
Diese Hemmschuhe will die NRW-Wirtschaftsministerin mit ihrem Masterplan nun beseitigen. Von Rolf Bracke, Leiter des Fraunhofer IEG, bekam sie dafür bei der Vorstellung ihres Vorhabens bereits Vorschusslorbeer. Als „Meilenstein für NRW und Deutschland“ bezeichnete er das Maßnahmenpaket.
Zuspruch kam selbst von der Deutschen Umwelthilfe. Constantin Zerger, Bereichsleiter Energie und Klimaschutz, sagte in Düsseldorf mit Verweis aufs Revier: „Das ergibt total Sinn. Hier ist die Energie immer aus der Erde gekommen.“
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