Oberhausen/Essen. Larissa und Vjatcheslav leben nun im Ruhrgebiet. Sie ist angekommen, er will es vielleicht gar nicht. So sehen sie ihr neues Leben.
Der Krieg kam übers Telefon. „Mein Sohn hat mir Fotos geschickt von Explosionen am Flughafen von Dnipro“, sagt Vjatcheslav Jalanskij. Dieser Moment, dieses Datum hat sich ihm eingebrannt: Am 24. Februar vor zwei Jahren sind die Russen einmarschiert, sie zerstörten sein altes Leben. Jalanskij war IT-Manager, Geschäftsführer, hat den Glasfaserausbau in der Millionenstadt Dnipro vorangetrieben. Nun lebt er mit seiner Familie in einem Flüchtlingsheim in Essen, fast zwei Jahre schon, viel länger als die meisten. Jalanskij hofft und hadert und verharrt im Provisorium.
Als die stellvertretende Schulleiterin Larissa Kaplunova am Morgen des 24. Februar in einem Elternchat las, dass die Kinder sofort abgeholt werden sollten, war ihr erster Gedanke: die Enkelinnen, das Kernkraftwerk! Tatsächlich besetzten die Russen nur eine Woche später den Atommeiler von Saporischschja. Larissa Kaplunova sagte ihrer Schulleiterin Bescheid, bat die Nachbarin, die Blumen zu gießen und führte ihre Familie zum überfüllten Bahnhof. Heute, zwei Jahre danach, unterrichtet Kaplunova an einem Berufskolleg in Oberhausen, der Partnerstadt, die die Deutschlehrerin von zahlreichen Austauschfahrten kennt. Sie hatte die besten Startvoraussetzungen ins neue Leben – und doch zweifelt sie oft: Wollen wir bleiben, wollen wir zurück?
Neue Nachbarn oder Fremde nebenan?
Zwei Jahre dauert nun der Krieg, in zwei Jahren sind über eine Million Ukrainer nach Deutschland gekommen. (Im Schnitt sind sie 40 Jahre alt, fast drei Viertel haben studiert, 65 Prozent von ihnen sind Frauen. Die meisten leben längst in Wohnungen, nur acht Prozent in Gemeinschaftsunterkünften.) Aber sind sie auch ankommen? Oder ist das überhaupt nicht ihr Ziel? Die Geschichten von Larissa Kaplunova und Vjatcheslav Jalanskij zeigen eine Bandbreite auf, wie die Menschen mit Flucht und Trauma umgehen. Werden sie zu neuen Nachbarn oder bleiben sie die Fremden nebenan?
Wie viel ein Strauß Blumen ausmacht in diesem Zimmer. Vjatcheslav Jalanskij und seine Frau Ivanna sind vor wenigen Tagen Eltern geworden. Jevgen ist ihr deutsches Kind. Vom Essener Elisabeth-Krankenhaus ist Jevgen nun umgezogen in das ehemalige Marienhospital, in dessen vierter Etage nun ukrainische Flüchtlinge leben. Mit der Geburt ihres dritten Sohnes hat die Familie Jalanskij einen Raum dazubekommen. In einem weiteren Zimmer wohnen die Schwiegereltern des ehemaligen Managers. Sein krebskranker Vater hat hier seine letzten Tage verbracht. Er sagt: „Geburt und Tod – das hat nun ein neues Gleichgewicht gefunden.“
Ihre Welt ist geschrumpft
Die Welt der Jalanskijs ist angesichts der gesundheitlichen und emotionalen Probleme geschrumpft, erschöpft sich in diesen paar Räumen, in den Wegen zu Ämtern und Supermärkten, zur Kita und Schule. Der Handybildschirm ist die Verbindung zum alten Leben: mit den kleinsten Details des Krieges, mit den Nachrichten des erwachsenen Sohnes aus erster Ehe, der in Dnipro geblieben ist, über die Chats mit anderen Exil-Ukrainern. Im Stadtteil Altenessen sucht Vjatcheslav Jalanskij nun zwei Wohnungen, er sagt, weil er seine Kinder nicht aus der Schule und der Kita reißen will. Er gibt aber auch zu: Er kennt die anderen Seiten von Essen gar nicht. Vom Baldeneysee hat er in den zwei Jahren noch nie gehört.
Die Lehrerin Larissa Kaplunova wohnt im Erdgeschoss eines Reihenhauses, ihre Möbel sind gespendet, Bilder hängen noch keine an der Wand. Sie ist auch gerade erst umgezogen, in die etwas größere Wohnung einer Arbeitskollegin, die zurückgekehrt ist in die Ukraine. Auch sie sprach bereits vor dem Krieg deutsch, ist aber nie angekommen. Sie hat Distanzunterricht für eine ukrainische Schule gegeben, ihr Mann kämpft daheim im Krieg. Sie kehrte mit ihrem siebenjährigen Sohn lieber zurück nach Saporischschja, nahe an die Front, als hier zu bleiben. Larissa Kaplunova kann das natürlich verstehen. Aber sie hat diese Bande nicht mehr.
Es sind ja so viele Bekannte und Freunde aus Saporischschja nach Deutschland geflohen, viele sogar nach Oberhausen, 20 an der Zahl vielleicht. Larissa Kaplunova fühlt sich unterstützt: von „Oberhausen hilft“, dem Verein, den sie seit fast 40 Jahren aus Saporischschja kennt, von den Ehrenamtlichen des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums, in ihrem Berufskolleg, wo sie nicht nur Ukrainern Deutsch beibringt, sondern auch Syrern, Afghanen, Türken ... Sie sagt: „Dort freuen sich alle auf mich. Ich fühle mich auf allen Ebenen unterstützt. Deutschland – bedeutet für mich vor allem Menschen, auf die ich mich verlassen kann.“
Vieles spräche dafür, zu bleiben
„Ich bewundere, wie hier Unterricht gemacht wird“, sagt Larissa Kaplunova. Ihre Welt hat sich geweitet. Fachlich, aber auch finanziell. Sie ist 59 Jahre alt und Witwe, sie hat nicht schlecht verdient für ukrainische Verhältnisse. Ihr Sohn ist extrem schwerhörig, ihre Schwiegertochter taubstumm, auch sie hatten gute Jobs, er als Mechaniker, sie als Monteurin in einem Werk für Flugzeugteile. Aber mit Renteneintritt hätten sie die Mutter unterstützen müssen, so wie Larissa Kaplunova auch ihre Mutter unterstützen musste. Vieles spräche dafür, zu bleiben, aber das wird von der Familie ihres Sohnes abhängen, sagt sie.
Auch ihr ist nichts leicht gefallen: „Ich habe immer gemacht, immer gelächelt. Aber in Wirklichkeit war ich nervös.“ All die ungeklärten Fragen. Im vergangenen Sommer noch ist sie nach Hause gereist, wo ihre Nachbarin seit eineinhalb Jahren die Blumen für sie goss. Larissa Kaplunova ist ihre „wunderschöne Hauptstraße“ entlanggelaufen und hat mit dem Gedanken an Rückkehr gespielt. „Aber dort, wo ein Denkmal der Architektur stand, da klafft nun eine Lücke. Neben meinem Haus haben die Kinder im Hof gespielt, aber 20-mal gab es Luftalarm. Am nächsten Tag habe ich gelesen, dass zwei Menschen im Nachbarviertel auf dem Weg zum Einkauf getötet wurden von Raketen.“ Ihre Blumen hat sie der Schule geschenkt.
In jenem Sommer scheiterte die ukrainische Gegenoffensive. Das nahm Vjatcheslav Jalanskij die Hoffnung auf baldige Rückkehr. Aber im Sommer wurde auch sein siebenjähriger Sohn Lev eingeschult. „Das war ein Wendepunkt“, sagt er. „Da habe ich gemerkt, dass wir uns mit diesem Ort verbinden.“ Zuvor fehlte die Zeit, eine Wohnung zu suchen, musste er sich um den kranken Vater kümmern, um die Familie, sagt er, nun sieht er plötzlich Gründe zu bleiben. „Unser Sohn brauchte Hilfe, weil er hyperaktiv war. Die Medikamente helfen ihm sehr, er fühlt sich besser. Wenn wir nun zurückgehen könnten, hätte er diese Möglichkeit nicht mehr.“ Andererseits: „Wenn nun F16-Jets geliefert würden, wenn wir Langstreckenraketen bekämen. Vielleicht könnte das unsere Situation ändern.“