Essen. Demokratie im Krisenmodus - Expertenrunde debattiert beim Politischen Forum Ruhr in Essen über Krieg und Frieden und die Zukunft Europas.
Krieg in der Ukraine, Krieg in Gaza, Putin fordert Europa heraus und ein Wahlsieg Trumps erscheint möglich. Europa ist im Krisenmodus. Hinzu kommt: Die Staaten der EU sind sich ganz und gar nicht einig! Ob Klimakrise, Aufnahme von Flüchtlingen oder Unterstützung der Ukraine – Europa treibt auseinander. Erstarkende rechtspopulistische Tendenzen haben das Potenzial, die Fliehkräfte innerhalb der Union dramatisch zu erhöhen. Das Thema des Politischen Forums Ruhr könnte daher aktueller kaum sein: „Ein gemeinsam wehrhaftes Europa – zu schön, um wahr zu werden?“
In der Philharmonie Essen diskutierte über diese Frage am Donnerstagabend eine hochkarätige Expertenrunde vor rund 2000 Gästen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Auf dem Podium saßen der gefragte Militärexperte und Politikprofessor Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München, die Journalistin und langjährige Korrespondentin in Moskau Katja Gloger von Reporter ohne Grenzen, die Bundestagsabgeordnete und Verteidigungsexpertin Serap Güler (CDU) aus Marl sowie Achim Post, Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der NRW-SPD, die Europa-Abgeordnete Terry Reintke (Grüne) und Janusz Reiter, ehemaliger polnischer Botschafter in Deutschland und den USA. Moderiert wurde die Runde von Jörg Quoos, Chefredakteur der Berliner Zentralredaktion der FUNKE-Mediengruppe.
Zwei Jahre Krieg in der Ukraine
Masala skizzierte zunächst in seinem Impulsvortrag die globale Bedrohungslage, in deren Zentrum sich die EU bewegt. „Wir stehen vor einer sich dramatisch beschleunigenden Herausforderung“, sagte der Militärexperte. „Wir befinden uns inmitten einer Auseinandersetzung um eine neue Weltordnung.“ Staaten wie China und Russland wollten eine neue Weltordnung erzwingen, bei der großen Staaten die Regeln bestimmen und ihre Einflusssphäre ausweiten. „Wenn Russland sich in dem Krieg gegen die Ukraine durchsetzt, wird das die Sicherheitslage in Europa auf Jahrzehnte verändern“, so Masala. Für Europa bedeute dies, massiv in Verteidigung und Sicherheit investieren zu müssen.
Die zweite Gefahr drohe durch einen Aufstieg europafeindlicher und rechtspopulistischer Parteien in Europa. „Und diese sind allesamt russlandfreundlich“, sagte Masala. „Das kann nichts Gutes für Europa bedeuten.“ Eine dritte große Gefahr drohe Europa durch einen Wahlsieg Donald Trumps in den USA. „Wir wissen nicht, ob die US-Demokratie seine Attacken diesmal überstehen wird.“ Es könne daher sein, dass die USA als starke Schutzmacht Europas ausfallen werden. „Wir Europäer wären dann einer aggressiven Atommacht Russland schutzlos ausgeliefert.“
Debatte um die Atombombe
Europa sei bislang nicht gut auf diese Herausforderungen vorbereitet. Die Staaten müssten sich zu einer echten Verteidigungsunion zusammenschließen, gemeinsame militärische Strukturen aufbauen und in Sicherheit und Militär investieren. „Klar ist: Es kann politisch nicht so weitergehen wie bisher.“ Es wäre daher fatal, wenn bei den Wahlen zum Europaparlament im Juni europafeindliche Parteien gestärkt würden, sagte der Politikprofessor.
Um die Ukraine langfristig militärisch zu unterstützen und selbst eine wirksame Verteidigung gewährleisten zu können, müsse die deutsche und die europäische Rüstungsindustrie rasch und massiv hochgefahren werden. Ob dies schnell und umfassend genug gelingen könne, sei nicht absehbar. Und schon flackerte auch die bisherige Tabu-Frage nach einer europäischen Atombombe auf. Masala hielt dies indes für „komplett illusorisch“.
Europäische Union zu schwerfällig
Die Europapolitikern Terry Reintke (Grüne) beklagte vor dem Hintergrund dieses bedrohlichen Szenarios die politische Schwerfälligkeit der EU. „Wir brauchen zu lange für wichtige Entscheidungen, gerade im sicherheitspolitischen Bereich. Daher müssen wir wegkommen vom Prinzip der Einstimmigkeit.“ Einzelne Nationen dürften nicht die ganze Union blockieren können, sagte sie mit Blick auf den ungarischen Regierungschef Viktor Orban.
Wie Achim Post (SPD) forderte auch Serap Güler (CDU) dauerhafte und hohe Investition in die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas. „Damit meine ich aber nicht nur militärische Sicherheit“, sagte Güler. Der Sicherheitsbegriff müsse ebenso Energie, Wirtschaft und Handel umfassen. „Wir sind noch nicht im Krieg, aber längst nicht mehr im Frieden“, mahnte Güler.
„Putin wird nicht stoppen“
„Der Überfall auf die Ukraine hat uns gezeigt, dass Europa nicht so bleiben kann, wenn wir überleben wollen“, sagte der ehemalige polnische Botschafter Janusz Reiter. „Verteidigungsausgaben sind auch Ausdruck dafür, dass wir unsere Sicherheit ernst nehmen. Dieses Signal richtet sich an unsere Freunde - aber auch an unsere Feinde.“ Diese hätten Europa bisher nicht ernst genommen. „Ich bin nicht pessimistisch“, sagte Reiter trotz aller Krisen. „Aber es kommen enorme Herausforderungen auf uns zu.“
Wie wichtig es sei, Putin entgegenzutreten, zeige erneut der „Mord auf Raten“ an dem Regimekritiker Alexej Nawalny, führte die Journalistin Katja Gloger aus. „Russland sieht sich im Krieg gegen den dekadenten Westen. Und dieser Krieg wird gerade in der Ukraine ausgetragen“, sagte Gloger. „Uns muss klar sein: Putin wird nicht stoppen.“
>>>> Das Politische Forum Ruhr
Seit über 30 Jahren gehört das Politische Forum Ruhr zu den wichtigsten Debattenforen im Ruhrgebiet. Die aus einer Privatinitiative des Essener Rechtsanwaltes Dr. Stephan Holthoff-Pförtner, bis 2022 NRW-Europaminister und bis heute Vorsitzender des Politischen Forums, hervorgegangene Kongressreihe zählt zu den gesellschaftspolitischen Veranstaltungsreihen mit der nach eigenen Angaben größten Publikumsresonanz in Deutschland.