Dortmund. Weil die Polizei dringend Nachwuchs sucht, kriegen jetzt auch Realschüler eine Chance: Wie sie neuerdings auch ohne Abi Polizist werden können.
Leni war 14, als sie sich bei der Polizei bewarb. 14! Sie selbst fand das spät, Polizistin werden will sie schon seit dem Kindergarten. Tatsächlich ist es früh, und die Möglichkeit sehr neu: Leni Vogelgesang, inzwischen zwei Jahre älter, gehört zum allerersten Jahrgang an der Fachoberschule Polizei. Sie macht in Dortmund ihr Fachabi und kann danach sofort durchstarten: Ein Platz im Dualen Studium zur Kommissarin ist ihr damit sicher.
Es hat etwas gedauert in NRW, wo man lange der Meinung war, dass nur Abiturienten gute Polizisten werden können. Doch der Personalmangel zwang die Politik zum Umdenken: Seit Sommer 2022 reicht auch ein mittlerer Schulabschluss. Auch in Haupt-, Real- und Gesamtschülern mit Mittlerer Reife schlummere „Polizei-Potenzial“, gestand zuvor Innenminister Herbert Reul (CDU): „Nicht nur Gymnasiasten können gute Polizisten sein.“
Polizei-Aufnahmeprüfung wie für „Große“
Prompter Auftritt Leni: Die Eltern Polizisten, die Paten Polizisten, „ich kenne es nicht anders“. Und die Realschülerin findet den Beruf „cool“, weil er so vielseitig sei und sie „Menschen helfen“ kann. Menschen helfen, das sagt auch Leon, in seinen Träumen auch schon ein Kindergarten-Cop, der von der Gesamtschule kommt und nun ein Jahr spart. Statt Abi Fachabi, sie finden beide, dass das reicht, und die Polizei findet es neuerdings auch.
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Sie sind inzwischen 16 Jahre alt, aber als sie sich bewarben, war die zehnte Klasse noch gar nicht in Sicht. Trotzdem schafften sie die Aufnahmeprüfung: zwei Kinder fast noch, die das Gleiche schafften wie die „Großen“. Etwas modifiziert zwar, gibt Jahrgangsbetreuer Tim Groesdonk zu, aber doch ein Auswahlverfahren, das es in sich hat. Sport, ärztliche Untersuchungen, Konzentrations- und Stresstest, Rollenspiele, Vortrag halten, Rechtschreibung. Und Leni musste noch eine Schüppe drauflegen: Sie ist kleiner als die Mindestgröße, es galt, die fehlenden Zentimeter durch noch mehr Leistung wettzumachen.
Zum ersten Mal eine Waffe in der Hand, die erste Leiche gesehen
Kein Problem für sie, die boxt, auch nicht für Leon Drees, der Handball spielt. Überhaupt haben sie an Dortmunds Konrad-Klepping-Berufskolleg eine Klasse zusammen, in der 31 Schüler vor Motivation überschäumen. „Man merkt, die sind hier alle richtig“, sagt Till Sender, Koordinator des neuen Bildungsgangs. Als Klassenlehrer stellt Sender in Mathe Textaufgaben, die irgendwie mit der Polizei zu tun haben, gerade machen sie Wahrscheinlichkeitsrechnung: Er lässt die Jugendlichen Einbruchs- und Aufklärungsquoten ausrechnen. Und er lernt selbst viel Neues, „was die Schüler alles erleben“! Da kommen sie aus ihren Praktikumstagen und haben eine Schusswaffe gehalten oder eine Leiche gesehen… Leon war neulich mit der Autobahnpolizei unterwegs, „da haben wir Raser rausgezogen“.
Nun muss der Nachwuchs meist im Wagen sitzen bleiben, er ist ja meist noch minderjährig und der Wunsch der Eltern maßgeblich, dass die Kinder heil nach Hause kommen. Aber der Einblicke sind trotzdem viele: An drei von fünf Wochentagen geht es für die Fachoberschüler in die Praxis, Einsatztraining, Wach- und Wechseldienst. Es gibt Praktika in der Verwaltung, am Ausbildungsstandort in Selm, in den Kriminaldirektionen und kürzlich eines in einer „polizeinahen Institution“. Leni war am Amtsgericht in Herne, Leon beim Rettungsdienst der Malteser. Im zweiten Jahr drücken sie nur die Schulbank, aber auch da geht es um die Sache: Recht, Staatslehre, Kommissare kommen in den Unterricht „mit echten Akten“, verspricht Groesdonk.
Vier neue Standorte für das neue Schuljahr
Noch ist die Ausbildung am Berufskolleg ein Schulversuch, angestoßen noch von der früheren Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP). Aber schon jetzt ist der neue Ansatz ein Erfolg: 2800 Jugendliche bewarben sich für das erste Jahr, 341 junge Leute aus dem gesamten Umland kamen zum Zug. Im kommenden Schuljahr steigen neben den vorhandenen elf Standorten (darunter Bochum, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen und Recklinghausen) vier weitere ein. Andere werden zweizügig, es wird im Sommer Platz sein für 551 Neuanfänger.
Und jeder, der zwei Jahre erfolgreich durchzieht, bekommt eine Einstellungszusage – und die Eintrittskarte ins Bachelor-Studium. „Wir gewinnen“, sagt Betreuer Groesdonk, „junge Leute, die sonst durchs Raster gefallen wären.“ Und die Polizei hat früh zu möglichem Nachwuchs Kontakt, der sich nach dem Abi nicht mehr anders orientiert. Denn dass sie bleiben, ist für die 31 in Dortmund klar: „Die sind“, sagt Lehrer Sender, „richtig stolz, bei der Polizei zu sein.“ Nicht einmal in den Sommerferien wolle seine Klasse Urlaub machen. „Lieber noch ein Praktikum.“
>>INFO: HIER LANG GEHT ES ZUR POLIZEI
Unter dem Motto „Genau mein Fall“ wirbt die Polizei NRW um Nachwuchs.
Mit Mittlerer Reife: Infos zur Fachoberschule Polizei gibt es unter next-level-polizei.de . Dort kann sich jeder gleich online bewerben. Oder sich an den nächstgelegenen Standort wenden: Im Ruhrgebiet sind das bislang Bochum, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen und Recklinghausen; auch Düsseldorf, Köln und Münster sind unter 15 Berufskollegs dabei. Die zweijährige Ausbildung führt zum Fachabitur, das wiederum zum Polizeistudium berechtigt.
Mit Abitur: Infos zum Dualen Studium zur Polizeikommissarin oder zum Polizeikommissar gibt es unter genau-mein-fall.de , unter der Mailadresse polizeiberuf@polizei.nrw.de oder unter Telefon 0251/7795-5353. Studienorte der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung sind im Ruhrgebiet Gelsenkirchen, Herne, Dortmund, Duisburg und Hagen. Die dreijährige Ausbildung mit dem Abschluss Bachelor of Arts beginnt jeweils am 1. September und wird bereits vergütet. Bewerbungen für 2024 bis zum 8. Oktober.
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