Düsseldorf. Erşen (27) wollte schon immer Polizist werden und opferte viel für diesen Traum. Doch nach drei Jahren erfolgreicher Ausbildung fliegt er raus.
Erşen Çatal hatte einen Traum. Polizist wollte er werden, und das ist er auch – fast. Denn nach drei Jahren sonst erfolgreicher Ausbildung scheiterte der 27-Jährige an einem Teil der Tauchprüfung, die Entlass-Urkunde drückte man ihm noch im Schwimmbad in die Hand. Aus der Traum: Obwohl der Innenminister so dringend Personal sucht und dieser Kommissar-Anwärter vieles kann, was die Polizei braucht, macht er keine Ausnahme.
Erşen Çatal wollte schon immer Polizist werden - und er hat keinen Plan B
Erşen Çatal sitzt im Park auf einer Bank und hat keinen Plan B. Zwei Schulkinder laufen vorbei mit Tornistern fast so groß wie sie selbst, der Düsseldorfer schaut ihnen nach: So alt war er damals, als er beschloss, Polizist zu werden. Vielleicht war es „naiv, ein kindlicher Traum“, vielleicht war es am Anfang nur die Uniform, die den kleinen Erşen beeindruckte; sicher aber war es jener Tag auf dem Bolzplatz: Da nahmen große Jungs ihm den Ball weg, Erşen holte Polizisten in der Nähe zur Hilfe. Die kamen, die Jungen liefen weg. „Das waren Helden für mich“, sagt Çatal heute. Von da an wollte er sein wie sie.
Erşen Çatal gefällt die Idee vom „Freund und Helfer“
Nicht den Helden spielen, so ist er nicht, aber die alte Idee vom „Freund und Helfer“ gefällt ihm. Er wäre auch gern „ein gutes Beispiel für Migranten“, wie er selbst einer ist. Erşen Çatal ist ein ernsthafter junger Mann, er hat viel nachgedacht. Und nach dem Abitur erst einmal einen anderen Bachelor gemacht in Geschichte und Philosophie, seine Eltern wollten gern, dass ihr einziger Sohn studiert. Aber es war ein Studium ohne Ziel, auf die Frage „Was machst du danach?“ gab es für Çatal nur diese eine Antwort: „Das, was du immer tun wolltest.“ Er bewarb sich bei der Polizei.
Das Auswahlverfahren war anstrengend, nebenbei ging Erşen kellnern, schrieb seine erste Abschlussarbeit und trainierte viel. Er ist ein sportlicher Kerl, vor allem das Laufen ist sein Ding. Und wie froh er war, als er Kommissar-Anwärter wurde! Die Ausbildung an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Mülheim, Duisburg, Selm fühlte sich an „wie für mich zugeschnitten, von der ersten Sekunde an“. Sein Wissen als Historiker und sein Interesse an politischem Extremismus führte ihn in Praktika beim Staatsschutz; Erşen Çatal wusste: „Ich tue das Richtige.“
Gescheiterte Polizeiausbildung: Der Traum ist vorbei, „das ist hart“
Aber dann war da dieses Schwimm-Training im Sommer 2021. Mit einem Freund übte Erşen das Tauchen, 3,80 Meter tief, 15-, vielleicht 20-mal. Beim letzten Versuch verlor er unter Wasser die Orientierung, das Trommelfell war gerissen. Es ist geheilt, sagen die Ärzte, aber die Angst blieb. Und der Schmerz: Mehr als zwei Meter, sagt Erşen, kommt er nicht mehr hinunter. Am 31. August 2022 wollte er seine letzte Chance nutzen, „Augen zu und durch“ – es ging nicht. Die Ausbilder am Beckenrand erwarteten ihn nach dem Umziehen, sie verabschiedeten sich. „Der Traum war vorbei, das ist hart“, sagt Erşen Çatal. „Drei Jahre umsonst.“
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Er kann nicht akzeptieren, „will nicht verstehen“, dass die Polizei ihn „nur deshalb“ nicht will. „Das kann nicht sein“, er hat sie doch viel Geld gekostet, sie sucht doch Personal? „Da ist jemand fertig und dann verzichtet man.“ Und überhaupt: Warum muss ein Polizist tief tauchen können? Den anderen Teil der Prüfung hat er doch geschafft! „Jemanden retten kann ich.“ Es ist nicht so, dass der einst angehende Kommissar Fitness nicht nötig fände, natürlich müssten Polizisten laufen können und schwimmen auch, und das alles bis ins Pensionsalter. „Aber tauchen?“
„Allround-Polizist nicht mehr zeitgemäß“: Gewerkschaft wollte Erşen Çatal helfen
Çatal ist nicht der Einzige, der hier zweifelt. Die Gewerkschaft hat versucht zu helfen, der Petitionsausschuss des Landtags, eine Schar von Kollegen, die den Geschassten für einen „klugen Jungen“ halten. Der der Polizei nicht nur mit seinen türkischen Sprachkenntnissen hätte helfen können. Lässt man so jemanden gehen, weil er einen Ring nicht aus dem Wasser holen kann? „Die Frage muss man stellen“, findet auch der Kriminologe Frank Kawelovski: ob man an den Richtlinien festhalten müsse. Der Mülheimer war 43 Jahre selbst im Polizeidienst, er meint: Der Allround-Polizist „passt nicht mehr in die Zeit“. In Deutschland werde „seit Kaisers Zeiten ein Einheits-Polizist ausgebildet“, der alles können müsse. Heute gebe es aber andere Anforderungen, etwa im digitalen Bereich. Und für jemanden, der Cybercrime aufklärt, müsse Tauchen kein Standard sein.
Muss es doch, sagt das NRW-Innenministerium. „Bürgerinnen und Bürger in Not“, so ein Sprecher, „müssen darauf vertrauen können, dass eine vor Ort anwesende Polizeibeamtin beziehungsweise ein Polizeibeamter über eine ausreichende Rettungsfähigkeit verfügt.“ Dazu gehöre unbestritten auch das Tauchen. „Es wäre fatal, wenn eine Person ertrinken würde“, weil ein Polizist „nicht in der Lage ist, zu tauchen“. Das Ministerium verweist auf allein etwa 750 Polizeieinsätze in NRW im Jahr 2021 mit dem Anlass „Person im Wasser“. Erst im vergangenen Jahr hätten zwei Beamte in Oberhausen einen in den Rhein-Herne-Kanal gestürzten Rollstuhlfahrer gerettet.
Trotz Nachwuchsmangel bei der Polizei: Minister macht keine Ausnahme
Aber auch aus rechtlichen Gründen könne man keine Ausnahme machen: Die geltende Studienordnung eröffne kein Ermessen, auch der Gleichbehandlungsgrundsatz im Grundgesetz stehe einer Ausnahme entgegen. Die Module des „Berufspraktischen Trainings“, zu denen die Schwimmprüfung gehört, seien „im Bachelorstudiengang Polizeivollzugsdienst obligatorisch und müssen von allen Kommissaranwärterinnen und Kommissaranwärtern erfolgreich absolviert werden“. Die Ausbildung und deren Überprüfung, heißt es, sei notwendig, um „in Gefahrensituationen … handlungsfähig“ zu sein und den Menschen zur Hilfe kommen zu können.
Das aber ist für den Polizeiwissenschaftler Kawelowski wiederum ein Punkt. Weil der Polizei Bewerber fehlten und zudem die Anforderungen an die Auszubildenden beim Übergang zum Bachelor-Studium verschärft worden seien, hat der Apparat 2025 absehbar „1000 Polizisten weniger als gebraucht“, rechnet er vor. „Das ist nicht einfach eine Zahl.“ Es bedeute vielmehr: „Wir sind in Not, und die Polizei kommt nicht schnell genug. Den Leuten wird nicht geholfen.“ Dabei wollte Erşen Çatal doch genau das: helfen.
Nach gescheiterter Polizeiausbildung ist keine Alternative in Sicht
Er selbst sagt, es fühle sich „beschissen“ an, jetzt seine Kollegen zu sehen, die es geschafft haben. „Die dürfen meinen Traum leben.“ Wenn er sie sieht in ihren noch neuen Uniformen, dann denkt der 27-Jährige: „Ich habe genau dasselbe drauf wie ihr.“ Noch hat er keinen anderen Weg gefunden, was soll er machen: Sicherheitsdienst? Ordnungsamt? Es würde jeden Tag schmerzen und sich anfühlen wie: Fast-Polizist. Eine dritte Ausbildung will er nicht machen; alles, was ihm liegt, sei zu nah an dem, was er eigentlich will. „Da wird sich wohl keine Tür mehr auftun“, ahnt sein ehemaliger Lehrer Kawelovski. Erşen Çatal aber sagt selbst, er wolle das „noch nicht wahrhaben: Ich glaube nicht, dass mich etwas anderes jemals richtig erfüllt.“