Essen. Wissenschaftler der Uni Essen wehren sich gegen Kritik an Tierversuchen. Es gebe keine Alternative, jedes Medikament werde an Tieren getestet.
Das „Herz aus Stein“ haben jetzt andere. Der Negativpreis des Vereins „Ärzte gegen Tierversuche“, verliehen für „grausame und absurde“ Experimente, geht nach Marburg; dort hatte man zur Hirnleistung von Affen geforscht. Für Biologen der Universität Duisburg-Essen, wegen ihrer Arbeit mit Graumullen in der Kritik, stimmten im Internet deutlich weniger Menschen ab. Aber eine Debatte über das Für und Wider von Tierversuchen ist einmal mehr in der Welt.
Haus „S“ steht für „sandgelb“, und im Keller des Essener Uni-Gebäudes liegt tatsächlich ein Stück Sahara. Sommer im März, 24 Grad und feuchte Luft, es riecht nach Sägespänen. Hier wohnen die Mulle, die sonst in Afrika leben, 300 kleine Nagetiere, an denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und solche, die es werden wollen, forschen. Meist geht es um ihr Verhalten, oft um ihr gesegnetes Alter, ihre Schilddrüse und immer wieder um diese eine Frage: Warum nur kriegt der Mull keinen Krebs? Einmal aber, es ist schon Jahre her, untersuchten sie hier die magnetische Orientierung der Nager. Man habe ihnen dafür, klagen Tierschützer, „beide Augen herausgeschnitten“. „Operativ entfernt“, formuliert die Fakultät für Biologie.
Winzige Augen können nur Hell und Dunkel unterscheiden
Sie wissen schon, wie das für Laien klingt. „Klingt brutal“, sagt Biologin und Studienleiterin Prof. Sabine Begall. „Die Versuche hören sich dramatisch an“, gibt auch der Tierschutzbeauftragte Prof. Gero Hilken zu. Kein Mensch, weiß Begall, wolle sich ja vorstellen, blind zu sein. Aber Mulle seien „keine Gesichtswesen“, ihre nicht einmal stecknadelkopfgroßen Augen laut Hilken „nicht vergleichbar mit Mensch oder Maus“. Der pfundschwere Graumull lebt ausschließlich unter Tage, kann lediglich Hell und Dunkel unterscheiden. Dafür sind Tast- und Geruchssinn besonders ausgeprägt. Tatsächlich sind die Augen so winzig, dass nur geschulte Menschen erkennen, welche Tiere zwischen 2006 und 2017 Teil der Versuchsreihe waren und welche nicht.
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Das kann man versuchen, weil von 30 operierten Mullen noch immer sieben im „Mullarium“ leben; die übrigen seien eines natürlichen Todes gestorben, sagen die Experten. Und dabei so alt geworden wie ihre Artgenossen: Der Alterspräsident erreichte 26 Jahre, zum Vergleich: Mäuse schaffen maximal zwei. Das unter anderem macht die Spezies für Forscher so interessant. Zudem würden die Nager, so Hilken, „lebensnah und artgerecht gehalten“. Es ist ein Rascheln, Graben, (Hamster-)Raddrehen und Fiepen im Keller, „die unterhalten sich immer“, sagt Professorin Begall fast liebevoll. Und fortpflanzen tun sie sich auch, welche Versuche auch immer sie mitgemacht haben. „Das beste Zeichen, dass es ihnen gut geht.“ Eine Tierärztin untersucht die Lebensbedingungen wöchentlich, nimmt regelmäßig Proben. Den Mullen in Essen, sagt Prof. Matthias Gunzer, gehe es „bedeutend besser als vielen Haustieren“.
„Unehrliche Diskussion bereitet Forschenden große Probleme“
Der Kampf gegen Tierversuche, den auch das EU-Parlament immer wieder führt, treibt den Essener Biologen, zugleich Vorsitzender der Kommission für Artgerechte Tierversuche in der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, um. Die „unehrliche Diskussion“, sagt Gunzer, bereite „den Forschenden große Probleme“ und sei „brandgefährlich“. Denn ohne Tierversuche keine Medizin, sagt der Wissenschaftler: Folgerichtig dürften Tierversuchs-Gegner keinerlei Medikamente verschreiben oder einnehmen. Keine Antibiotika, keinen Blutdrucksenker, kein Krebsmittel, nicht einmal Aspirin. „Sämtliche derzeit verfügbaren Medikamente wurden während der Entwicklung in sogenannten präklinischen Tests in Tieren getestet.“
Unsinn, sagen die „Ärzte gegen Tierversuche“: 90 Prozent der Medikamente, rechnet dort die Tierärztin Gaby Neumann vor, „scheitern am Menschen“. Indem sie gar nicht wirkten oder schlimme Nebenwirkungen hätten. Außerdem gehe es bei den operierten Mullen nicht um medizinische, sondern um Grundlagenforschung – die erfülle „keinen konkreten Zweck“. Dagegen wehren sich nun wieder die Wissenschaftler: Tierversuche, sagt Prof. Gunzer, seien niemals ohne Zweck, man mache „nur Experimente, die für die biomedizinische Forschung nötig sind“. Und der Graumull sei „ein Forschungs-Organismus par excellence“.
Im konkreten Fall zog der Essener Biologe Yoshiyuki Henning aus der natürlichen Schilddrüsenunterfunktion der Mulle Rückschlüsse auf Sehstörungen bei Säugetieren. Bei den Graumullen entdeckte er Werte, die den Menschen krank machen würden, die Tiere seien aber „kerngesund“. Henning fand „Anknüpfungspunkte, um zukünftig Hormonstörungen und deren Folgen beim Menschen zu behandeln“. Etwa fünf Prozent der deutschen Bevölkerung litten nachgewiesen an einer Schilddrüsenunterfunktion, die Studienergebnisse trügen dazu bei, „die Lebensqualität dieser Personen zu verbessern“.
Tierversuche nur mit Genehmigung von Ethikkommission und Behörden
Jeder Antrag für einen Tierversuch ist dabei sehr aufwändig: Im Detail müssen die Wissenschaftler auf vielen Seiten beschreiben, was sie tun wollen, warum und: wieso es nicht ohne Tiere geht. Jeder Versuch wird intensiv durch eine Ethikkommission überprüft und nur nach deren Zustimmung behördlich genehmigt. Das „Zauberwort“, erklärt Prof. Hilken, sei „Unerlässlichkeit“. Gäbe es Alternativen, werde eine Studie nicht erlaubt. Auch in Sachen Mull war das so: Man habe ausführlich begründet, sagt Sabine Begall, warum der Versuch relevant sei – und natürlich nur mit Genehmigung gearbeitet. Das Entnehmen der Augen sei dabei nicht mehr als ein kurzes Ausschaben gewesen, zudem unter Vollnarkose und mit anschließender Gabe von Schmerzmitteln. Nach kurzer Zeit seien bei den Tieren keine Stressreaktionen mehr nachweisbar, die Tiere wieder sexuell und beim Nestbau aktiv gewesen.
Tierschützer indes argumentieren, kein Tierversuch sei heutzutage mehr nötig, der Stand der Forschung ermögliche es längst, künstliche Modelle zu studieren. Aber in der Sinnesbiologie, sagt Prof. Begall, funktioniere die Forschung nur am lebenden Tier: „Der Mull kann keinen Fragebogen ausfüllen.“ Ihr Regal ist voll mit studentischen Arbeiten, die an den rund 3000 Mullen im Keller Verhaltensforschung betrieben haben. Auch für Forscher Henning und die Mullen waren Alternativen keine Option: „Auch mithilfe von derzeit verfügbaren Ersatzmethoden ist es nicht möglich, die komplexe Interaktion zwischen Hormonsystem und Netzhautfunktion zu untersuchen.“ Die Komplexität eines ganzen Organismus, sagt auch Prof. Gunzer, könne man nicht in einem Reagenzglas darstellen, und auch die auf ihn wirkenden äußeren Einflüsse nicht. Eine künstliche Leber etwa „erfasst nicht das ganze Leben“, nicht den Alkohol, nicht den Zigarettenrauch, nicht den Stress, dem der Mensch vielleicht ausgesetzt ist. Zudem sei sie nicht durchblutet und mit Nervenfasern versorgt. Und: „Isolierte Zellen verändern sich“, ähneln nach wenigen Tagen schon nicht mehr dem Organ, aus dem sie entnommen wurden. „Das Tiermodell ist nicht das Gleiche wie der Mensch selbst.“
Tierschützer: „Der Mensch ist keine 75-Kilo-Ratte“
Das indes ist umgekehrt dasselbe Argument, das auch Tierschützer anführen. Erkrankungen von Menschen an Tieren zu simulieren, „kann nicht funktionieren“, sagt Gaby Neumann von den „Ärzten gegen Tierversuche“. Nicht nur Immunsystem oder Lebenserwartung unterschieden sich fundamental. Die viel gepriesenen Ergebnisse mit angeblicher Bedeutung für den Menschen seien ergo „nur Zufallsbefunde“ und „nicht übertragbar: Der Mensch ist keine 75-Kilo-Ratte“. Stimmt, sagt Matthias Gunzer: „Wir sind keine übergewichtigen Nagetiere, aber dennoch würde ein Wirkstoff, der in einem präklinischen Test im Tier giftig war, niemals einem Menschen verabreicht.“ Dagegen gebe es zahllose Beispiele, bei denen Effekte im Tier später genauso im Menschen bestätigt werden konnten – und damit die Grundlage für neue Therapien legten.
Es streiten auf dem Papier tatsächlich auch die Gesetze: die Freiheit der Wissenschaft gegen das Tierschutzgesetz, nach dem einem Tier kein Leid zugefügt werden darf. Es ist ein Abwägen, das wissen sie an der Uni Duisburg-Essen wohl. Prof. Gunzer weiß um das Dilemma, das selbst Ethiker benennen: „Man kann einen Tierversuch machen oder ihn sein lassen – in beiden Fällen macht man sich schuldig.“ Und schließlich: Wenn Europa Tierversuche gänzlich verbiete, würden andere Länder sie machen, die es mit dem Tierwohl weniger genau nehmen. Und die Wirkstoffe, die so entwickelt würden, sagt Gunzer, „landen dann auch in unseren Medikamenten. Nur fühlen wir uns dann besser, weil wir sie nicht gemacht haben“.
>>INFO: TIERVERSUCHE AUF DEM WEG ZUR CORONA-IMPFUNG
Auch die Entwicklung des Impfstoffs gegen Sars-CoV 2 wäre wohl ohne Tierversuche nicht möglich gewesen. „Wir dürfen“, erklärt Immunologe Prof. Matthias Gunzer in Essen, „nie einen neuen Impfstoff am Menschen ausprobieren, ohne das vorher am Tier getan zu haben.“ Nun wusste man nach Ausbruch der Pandemie recht schnell, dass etwa Mäuse gar kein Covid bekommen können. Aber ob sie nach der Impfung Antikörper oder Killerzellen entwickeln, konnten die Forscher sehr wohl nachweisen. „Man kann sehen, ob das Immunsystem überhaupt reagiert.“
Die Corona-Impfung ist für Gunzer „ein unfassbar gutes Beispiel dafür, was Biomedizin kann: Ohne Tierversuche hätten Sie das Vakzin vergessen können.“ Das habe jedem gezeigt, was Wissenschaft leisten könne. Innerhalb von elf Monaten einen Impfstoff zu entwickeln? „Beispiellos.“