Essen. Ob Corona-Impfstoff, Krebsmedikamente oder Grundlagenforschung - ohne Versuche an Tieren kein Fortschritt.Oder doch? Es gibt Alternativmethoden.
Gequälte, in Versuchsapparaturen steckende Mäuse, Hunde oder Affen möchte keiner sehen. Doch in diesen Zeiten blicken alle Menschen mit mehr Interesse als sonst auf die Impfstoff- und Medikamentenentwicklung. Möglicherweise ändert das auch den Blick auf die dafür nötigen Tierversuche. Corona habe die humanbasierte Forschung angetrieben – also die Forschung rein am Menschen, heißt es bei einigen Wissenschaftlern. Tierversuche an Mäusen und Rhesusaffen hätten den Weg zum Impfstoff erst geebnet, meinen andere.
Für Dr. Corina Gericke von „Ärzte gegen Tierversuche“ liegt der Erfolg der schnellen Entwicklung eindeutig darin begründet, dass die üblichen Tierversuche verkürzt, übersprungen oder gleichzeitig mit den Tests an Menschen gemacht wurden. „Die für die Corona-Impfstoffe durchgeführten Tierversuche an Mäusen und Ratten geben keine Auskunft darüber, ob sie vor dem Coronavirus schützen können oder nicht, da diese Tiere natürlicherweise nicht mit dem Virus angesteckt werden können. Weiterhin gibt es keine Tierart, die die komplexen Corona-Symptome mit Befall zahlreicher Organe wie beim Menschen entwickelt.“ Es gelte um eine wissenschaftliche Fragestellung beantworten zu können, immer, einen Mix von verschiedenen Methoden anzuwenden, sagt hingegen Dr. Roman Stilling von „Tierversuche verstehen“, einer Vereinigung hinter der mehrere Wissenschafts- und Forschungsorganisationen in Deutschland stehen: „Weil jede Methode für sich genommen Stärken und Schwächen hat. Mit Versuchen, wie Lungen- oder Darmgewebe auf speziellen Chips werden schon wichtige Erkenntnisse gewonnen – doch sie können das Immunsystem eines Gesamtorganismus derzeit noch nicht vollständig ersetzen.“
Die Forschungsaktivitäten sind stark gestiegen
Tatsache ist, Tierversuche sind in zahlreichen Rechtsvorschriften auf internationaler Ebene, in der EU und in Deutschland vorgeschrieben. Beispiele sind das Arzneimittelgesetz, Chemikalien-, Futtermittel-, Gentechnik-, Infektionsschutzgesetz, Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz, Pflanzenschutz- oder Tierseuchengesetz. Das heißt, dass neue Medikamente oder Chemikalien vor der Anwendung am Menschen oder vor Inverkehrbringen zunächst Tierversuche durchlaufen müssen. Viele, der in den Prüfvorschriften und Gesetzen der EU sowie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verankerten Tierversuche, stammen allerdings noch aus den 1930er/40er Jahren. Bei den gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuchen muss jede neue, tierversuchsfreie Methoden eine aufwendige Validierung durchlaufen. „Das Resultat ist, dass es oft zehn bis fünfzehn Jahre dauert, bis eine tierversuchsfreie Methode anerkannt wird und selbst dann wird der Tierversuch oft noch parallel erlaubt oder vorgeschrieben“, erklärt Gericke.
Zahl der Versuchstiere nimmt ab
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Obwohl die Zahl der Versuchstiere 2020 erstmals deutlich um circa 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken ist, werden trotzdem noch fast zwei Millionen Wirbeltiere und Kopffüßer für Tierversuche „genutzt“. Darunter auch 2031 Affen und Halbaffen, 2560 Hunde und 644 Katzen. Insgesamt dienten 58 Prozent der Tiere allein der Grundlagenforschung. Die übrigen zur Erforschung von Erkrankungen, zur Herstellung oder Qualitätskontrolle von medizinischen Produkten oder für toxikologische Sicherheitsprüfungen. Über 100.000 Tiere wurden 2020 für die Aus- und Weiterbildung an Hochschulen oder für die Zucht von genetisch veränderten Tieren verwendet. Der Rückgang der Versuchstierzahlen sei nach Ansicht des Bundesamt für Risikobewertung, das die jährlichen Zahlen veröffentlicht, auf das Engagement Deutschlands für mehr Tierschutz zurückzuführen: „Das liegt zum Beispiel an den wissenschaftlichen Weiterentwicklungen im Bereich der Gentechnik. Auch im Rahmen der Europäischen Chemikalienverordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) wurde ein Anstieg der Zahl verwendeter Tiere im Versuch erwartet. Dieser deutliche Anstieg wurde bis jetzt nicht beobachtet. Aus meiner Sicht zeigt diese Beobachtung, dass im Bereich des Tierschutzes bereits viel unternommen wird“, erklärt Prof. Gilbert Schönfelder, Leiter des Zentrums. Aktuell entwickelt das Bf3R eine Suchmaschine, die Forschern geeignete Vorschläge für Alternativmethoden ohne Tiere für ihr Versuchsvorhaben liefern soll.
Doch vielmehr ist die positive Entwicklung im letzten Jahr – auch nach Aussage der Vereinigung Tierversuche verstehen – mit den Einschränkungen der Forschenden während der Pandemie zu erklären. Faktisch befindet sich die Zahl der verbrauchten Versuchstiere angesichts der vielen alternativen Methoden noch immer auf hohem Niveau. „Tierversuche verstehen“ sieht den Hauptgrund im allgemeinen Anstieg an Investitionen in Forschung und Entwicklung: „In der Zeit von 2009 bis 2019 sind als Beispiel allein die Ausgaben des Bundes für Gesundheitsforschung um fast 80 Prozent gestiegen“, heißt es in einer Meldung. Ein Grund, warum sich der Deutsche Tierschutzbund schon lange eine Umschichtung der Forschungsgelder auf tierfreie Versuche und von der neuen Bundesregierung eine Ausstiegsstrategie aus den Tierversuchen wünscht – dem Beispiel der Niederlande folgend.
Tierversuche gelten noch immer als sogenannter „Goldstandard“
Doch nicht nur die Gesetzeslage und die Art und Weise, wie Forschungsgelder vergeben werden steht einer Umstellung im Wege, scheinbar auch die Wissenschaft selbst, denn der Tierversuch gilt immer noch als „Goldstandard“. „Die Wissenschaft ist leider konservativ und Strukturen sind eingefahren“, sagt Melanie Ort, Biologin an der Charité in Berlin. Schon während ihres Studiums hatte sie sich vorgenommen, ohne Tierversuche zu forschen: „Ich wurde immer wieder belächelt dafür. Wenn Du keine Tierversuche machst, kommst Du in der Immunologie nicht weit, hat man mir damals gesagt.“ In der biomedizinischen Wissenschaft beispielsweise drehe sich alles um den Tierversuch, da stünden auf vielen Seiten Interessen dahinter: „Die Forschung ist somit natürlich planbarer und Arbeitsabläufe sind erprobt. Und unter dem Deckmantel, dass ja alles zum Wohle des Menschen gemacht wird, entstehen somit weniger Anreize echte Veränderung durchzusetzen.“ Dabei sieht sie den klaren Trend, dass Studierende keine Tierversuche mehr wollen. Zumindest das Hochschulwesen hat darauf reagiert: Nach Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen folgte Baden-Württemberg im letzten Jahr als achtes Bundesland, das die studentische Ausbildung ohne zwingende Tierversuche im Hochschulgesetz verankern will.
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