Essen. Am 2. Februar fällt die Maskenpflicht in Zügen. Enden dann die Übergriffe auf Zugbegleiter? Nein, sagen Experten. Denn es gibt größere Probleme.
3600 Übergriffe. Und das nur im Jahr 2022. 3600 Mal wurden Mitarbeiter der Deutschen Bahn Opfer verbaler, physischer, sogar sexueller Gewalt. Das sagt Jürgen Lenz, Betriebsrat im Bundesvorstand der Eisenbahn und Verkehrsgewerkschaft (EVG) im Bezirk West. Er hat das Bundesland 25 Jahre als Lokführer kennengelernt. Die Zahlen hat er aus einer internen Auswertung der DB Regio NRW. Anders als bei den Zahlen der Deutschen Bahnselbst werden hier auch Beleidigung und Bedrohung mitgezählt. Auch die „führen bei den Betroffenen zu erheblichen Angstzuständen und aufgrund der Häufigkeit und persönlichen Ausrichtung zu psychischen Beeinträchtigungen und Krankheit.“ Lenz und die EVG sind nicht alleine mit der Vermutung, dass die Kontrolle der Maskenpflicht in Zügen zu der hohen Zahl der Übergriffe beigetragen hat. Vor fünf Jahren waren es nämlich bloß 1000 Vergehen.
Am 2. Februar fällt die Maskenpflicht im Zug. Wird dann endlich alles gut? „Natürlich werden die Konflikte weniger werden. Aber die Zahl der Übergriffe stieg auch vor Corona schon.“ Die Coronapandemie als Katalysator vielleicht, ja. Des Pudels Kern sei aber ein anderer. „Übergriffe auf die Feuerwehr und Rettungskräfte, generell Uniformträger, haben auch zugenommen. Das ist eine Respektlosigkeit ihnen gegenüber, sie werden als Ziele gesehen. Diese Situation gibt es auch in den Zügen.“ Erinnerungen an die Silvesternacht.
Übergriffe auf Zugbegleiter: Bahn will mehr Kameras und mehr Sicherheitspersonal
Das hat auch die Deutsche Bahn selbst gemerkt. Eine Sprecherin führt 2325 Übergriffe an, allerdings nur in den ersten drei Quartalen 2022, und nur mit Blick auf physische Übergriffe. Die Fahrgastzahlen „auf dem Vor-Corona-Niveau“ hätten die hohe Zahl der Übergriffe bedingt. Der Fußball-Fernreiseverkehr startete im Sommer. Genau wie das 9-Euro-Ticket. Dazu kamen die vielen Nachholveranstaltungen. Immernoch da war aber die Maskenpflicht, und die vielen Konflikte, die sie heraufbeschwor.
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„Jeder Angriff auf unsere Mitarbeitenden ist einer zu viel und nicht hinnehmbar“, sagt die Sprecherin. „Wir nehmen im gesamten öffentlichen Raum diesen Trend wahr, im öffentlichen Verkehr genauso, wie bei Polizeien, Feuerwehren und Rettungsdiensten.“ Deswegen sollen die Mitarbeiter auch weiterhin jeden Vorfall zur Anzeige bringen. Mehr Kameras und mehr, besser ausgebildete Sicherheitskräfte sind geplant.
Bundespolizei: „Das können wir nicht leisten“
Musik in Andreas Roßkopfs Ohren. Der ist Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GPD) im Bereich Bundespolizei/Zoll. Die Bundespolizei ist für die Sicherheit in den Zügen und an den Bahnhöfen mitverantwortlich. Erst kürzlich forderte GDP-Chef Jochen Kopelke eine „Bahnhofssicherheitsstrategie“ im Angesicht der hohen Fallzahlen. Was ist das genau? Und wieso gibt es sie nicht längst?
„Wir müssen die Situation in Bahnhöfen und Zügen personell und technisch beleuchten“, sagt Roßkopf, ganz ähnlich wie die Bahnsprecherin. Vor allem Teile der Bahnhöfe seien immernoch „Angsträume“, hier könne engmaschige Videoüberwachung ohne tote Winkel helfen. Und die Forderung von EVG-Chef Martin Burkert, in jedem Fernverkehrszug „grundsätzlich Bundespolizei an Bord“ zu haben? „Das können wir nicht leisten“, bedauert Roßkopf.
„Gefahrenkarte“ für deutsche Bahnhöfe?
Dafür ist die Bundespolizei in den Bahnhöfen schlicht zu mager besetzt. Andreas Roßkopf möchte deswegen eine Art „Gefahrenkarte“ erstellen. „Welche Linien, welche Orte sind besonders gefährdet? Es gibt Bahnhöfe wie Leipzig und Frankfurt am Main, die sind gleich groß und deshalb gleich stark mit Polizisten besetzt. Aber in Frankfurt passiert potenziell viel mehr.“
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Geraderücken soll das ein Sicherheitsgipfel der Deutschen Bahn und der Bundespolizei. Und zwar auf Bundesebene. „Denn Sicherheitsrunden gibt es regional schon. Aber die haben nicht die Möglichkeit, neue Strukturen zu schaffen. Sie können eben nur regional wirken.“ Ein schlüssiges Konzept, eben eine Gefahrenkarte, könne Abhilfe schaffen.
Grund der Übergriffe: „Verrohung der Gesellschaft“
EVG-Betriebsrat Jürgen Lenz würde so ein Konzept sicherlich lieber heute als morgen haben. „Alleine die Frage nach einem Fahrschein kann schon reichen, um angegangen zu werden“, berichtet er. Bei Mitarbeiterinnen haben die Übergriffe oft eine noch verwerflichere Dimension: „Vor allem Frauen werden dann auch sexuell bedroht.“
Mittlerweile genügt aber schon die schiere Anwesenheit der Zugbegleiter, sagt Lenz. „Die bekommen dann zu hören: ,Kontrollier mich nicht, sonst steh ich vor deiner Haustür’.“ Dass die Maskenpflicht fällt, wird für das Zugpersonal wohl eine Erleichterung sein. Und doch nur ein Tropfen weniger im Meer. „Das ist ein flächendeckendes, gesellschaftliches Problem. Eine Verrohung der Gesellschaft.“