Bochum/Witten. Dokumentar-Film über den Strukturwandel im Revier erzählt, was nach dem Ende der Autoindustrie in Bochum und Detroit bleibt. Und vor allem: wer.
„Ist das die Zukunft?“ Als in Bochum Opels letzte Werkshalle fällt, hat Liesel Riechmann von gegenüber keine Fragen mehr, nur noch diese eine. Sechseinhalbtausend Kilometer trauert zur etwa gleichen Zeit Greg Prior vor den Ruinen des Chrysler-Werks im amerikanischen Detroit. „Es ist alles weg, alles vergangen.“ Zwei Szenen, die viel sagen über die Faszination der Filmemacher Michael Loeken und Ulrike Franke für den Strukturwandel: Auch das neue Werk der Wittener erzählt von den Menschen, die bleiben, wenn die Industrie geht.
Am Anfang lesen diese Menschen vor: „Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein: Wo jetzt noch Städte steh’n, wird eine Wiese sein.“ Eine depressive Person, die das schrieb, wie der Werkzeughändler Rich vermutet, oder eine, die es verstanden hat, wie der Hosen-Designer Eric meint? Es war der Dichter Andreas Gryphius, und der dürfte Bochum kaum gekannt haben und Detroit auch nicht: Es ist bald 400 Jahre her. Er kann nichts gewusst haben von dem, was die Grimme-Preisträger in und an diesen zwei Städten fanden, deren Automobilindustrie untergegangen ist. Neuanfang hier, Niedergang da, Loeken/Franke machen die beiden zu Brüdern im Bilde, im doppelten Sinne.
Vierte Dokumentation aus einer Reihe über den Strukturwandel
„We are all Detroit“, heißt ihr Film, Wir sind alle diese Stadt im amerikanischen Rost-Gürtel – das kann für Bochum eigentlich nicht gelten und tut es doch: Denn in Detroit, Michigan, entschieden die Manager von General Motors über das Aus für Opel in Bochum, es war das Ende für diese Industrie, das in ähnlicher Form in Detroit schon Jahre zurücklag. Das war der Grund, warum die Autoren erstmals in ihrer Reihe über den Rand des Ruhrgebiets hinausblicken wollten. Zwar halten sie nicht viel von Fortsetzungen, und ihre Filme sind auch nie welche gewesen. Aber auch „Winners and Losers“ über den Abbau der Westfalenhütte, „Göttliche Lage“ über den Phoenixsee, beides in Dortmund, und „Arbeit Heimat Opel“ erzählen vom Wandel, von der Veränderung, von dem, was diesmal im Untertitel steht: „Vom Bleiben und Verschwinden.“
Cadillac verschwand schon vor mehr als 60 Jahren aus Detroit, später wichen andere Auto-Fabriken und mit ihnen das Leben aus der Stadt: zwei Drittel der Arbeitsplätze, zwei Drittel der Menschen und ihrer Häuser. Es sind apokalyptische Bilder, die Loeken und Franke zeigen, Ruinen mit leeren Fensterhöhlen, leere Grundstücke, Verfall. Im besten Fall steht noch ein Zaun drumherum, aber auch der rostet, wie der Ingenieur Greg Prior traurig feststellt: „Sie haben es nicht mal richtig abgerissen.“ Das haben sie in Bochum sehr wohl getan, es ging schnell, auch aus aller Erfahrung mit dem Strukturwandel heraus und dem Bewusstsein: Alles ist besser als Brache. Und vor dem Zaun stehen im Film die Kiebitze, die alten Opelaner, die mit ihren Gefühlen kämpfen wie vor ihnen die Bergleute. Die sich erinnern, wie alles begann, Liesel Riechmann weiß es auch noch: „Alle waren glücklich, Arbeitsplätze!“
In Detroit pflanzen die Menschen Blumen, in Bochum kämpfen sie für Bäume
Aber nun sind die weg, in Detroit versuchen Donney und Roxanne Jones, Baulücken voll Blei im Boden mit Blumen und Gemüse zu füllen, so wie die Riechmanns in Bochum um die letzten Akazien kämpfen. Richard muss seinen Werkzeugladen, der mehr ein sozialer Treffpunkt war für die Übriggebliebenen, schließen, Hannelore fährt mit ihrem Imbisswagen jetzt Baustellen an. In Downtown Detroit machen sie jetzt in Jeans und eingelegten Gurken, aber es ist nicht dasselbe, es ist keine Autofabrik. Wie auch die neue Logistikhalle von DHL in Bochum keine ist. Ein schmuckloser Containerbau, „Blechkiste“, klagt Prof. Wolfgang Krenz, dessen Visionen von den Projektentwicklern übersehen werden. 600 Arbeitsplätze statt einst 20.000, und auch die werden wohl nicht ewig bleiben: Man arbeite, gibt der Firmensprecher vor der Kamera zu, an digitalisierten Prozessen.
Dabei geht es den Dokumentarfilmern nicht um richtig oder falsch, sie wollen auch gar nicht vergleichen, aber der Zuschauer tut es doch: Funktioniert der Strukturwandel in Bochum nicht viel besser? Doch halt! Nicht nur die amerikanischen Studenten zu Besuch im Ruhrgebiet merken ja sofort: Die Sozialsysteme sind nicht vergleichbar, niemand hilft einer Stadt in den USA mit Subventionen auf die Beine, niemand schickt einen Scheck aus Fördertöpfen, niemand denkt bei privaten Pleiten den öffentlichen Raum mit. Fabriken zu Parks, Produktionshallen zu Fahrradwegen? Amerika hat da sehr begrenzte Möglichkeiten.
Verliebt ins Ruhrgebiet – und nun auch in die Stadt Detroit
Doch auch in Bochum verfolgt das Team über Jahre nicht nur den Opelblitz, der aus dem Stadtbild montiert wird. Die Lohnstrukturen verschwänden mit, sagt Michael Loeken, die Regeln zur Arbeitszeit, vieles, was Gewerkschaften über Jahre erkämpften. Und mit allem die Selbstverständlichkeiten: dass man mit guter Arbeit gutes Geld verdienen kann. „Sie werden mitabgebaut.“ Das alles beobachten Loeken und Ulrike Franke sehr genau, sie sehen liebevoll die kleinen Dinge, die vermeintlichen Nebensächlichkeiten am Rande. Sie zeigen Stillleben des Verfalls wie in einem Fotoalbum, verweisen ebenso still auf die Gesten von Frau Riechmann und die Schrauben-Schachteln im „Baumarkt“ vergangener Tage. Im Detroit ihres Films scheint nie die Sonne, auch wenn im Sommer die Blumen blühen und die Menschen schwitzen bei dem Versuch, aus ihrer Stadt, aus ihrem Leben noch etwas zu machen. „Wie im Krieg“ habe der Ort auf die beiden gewirkt, doch sie haben sich schnell verliebt (das Ruhrgebiet liebten sie ohnehin schon).
Als bei Opel die letzte Werkshalle fällt – „absolut erhaltenswert“, hat Architektur-Professor Krenz gesagt – stellt Liesel Riechmann ihre Frage nach der Zukunft. „Es ist der Wandel“, antwortet Ehemann Peter, „absolut der Wandel.“ Offen, ob das gut ist oder schlecht, jedenfalls, sagt Frau Riechmann: „Unfassbar.“
>>INFO: FILMSTART IM KINO
Für ihre Dokumentation sind Michael Loeken und Ulrike Franke, die schon viele Preise bekamen, auch diesmal bereits gewürdigt worden: Schon vor dem Kinostart gab es für „We are all Detroit“ das Prädikat „Besonders wertvoll“ und den Publikumspreis des Kinofests in Lünen.
Am Dienstag, 3. Mai, feiert das filmische Porträt der beiden Städte Premiere in Bochums MBS Kino. Am 12. Mai startet der Film in den Kinos.