Dortmund. Nach der Corona-Pandemie die Bauchschmerz-Epidemie: Kinderärzte und Psychotherapeuten zeigen, was Lockdowns in Kinderseelen angerichtet haben.
„Das ist kein Leben, das ist nur Existieren.“ Irgendwann mitten in der Pandemie, ungefähr zweiter Lockdown, hat eine Zehntklässlerin diesen Satz zu ihrem Kinderarzt gesagt. Von Einsamkeit haben die Patienten Michael Achenbach in seiner Praxis erzählt, von Angst, von Wut: „Mir reicht’s!“, schimpfte Luzia – und das war ja wenigstens gut, dass die 15-Jährige schimpfte. Denn gerade Mädchen fraßen den Corona-Kummer eher in sich hinein. Es führte, sagt Achenbach, zu einer „Bauchschmerz-Epidemie“.
Und das ist ja nur eine Krankheit hinter der großen, unter der ja auch die Großen leiden. Eine, die nicht von Covid kommt, sondern von den Maßnahmen dagegen. Einmal mehr beschäftigten sich Experten bei einer Sprechstunde der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) in Dortmund mit den Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche, schon jetzt „Generation Corona“ genannt. Und rafften sie alle zusammen: die Essstörungen, die Depressionen, die Verhaltensauffälligkeiten, Kopfschmerzen, Bauchweh, Schlafprobleme...
Beim Daddeln wird der Rücken krumm und die Nacht zum Tag
Nach zwei Jahren gibt es bereits viele Studien zu dem, was geschlossene Schulen, das Fehlen sozialer Kontakte, das Abstandsgebot mit den jungen Menschen gemacht haben. Die Kinderpsychiaterin Dr. Undine Waßermann vom Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke kennt die Zahlen: Schon in der ersten Welle klagten 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen, dass Lebensqualität und Gesundheitsverhalten nachgelassen hätten, mehr Chips, weniger Draußensein, das erkannten sie ja selbst. Sie machten sich mehr Sorgen, waren unsicher, ob sie alles richtig machten, klagten über Ängste – die wuchsen, als im Winter 20/21 die Schulen schon wieder dichtmachten.
Die Zeit, die sie mit Medien verdaddelten, wuchs um fast die Hälfte; Jungs spielten am Computer, Mädchen suchten in sozialen Netzwerken nach Austausch. Beides machte Rückenschmerzen, die sowieso Konzentrationsschwachen konnten sich noch weniger konzentrieren. Der Rhythmus war gestört, „die Nacht wird zum Tag“, sah Kinderarzt Achenbach. Überhaupt zeigen auch die Befragungen sehr deutlich: Wer ohnehin schon Probleme hatte, bei dem verstärkten sie sich noch. Verhaltensauffälligkeiten nahmen um mehr als 60 Prozent zu, europaweit zählten Ärzte vermehrt Suizid-Gedanken und Phobien, psychiatrische Kliniken doppelt so viele Einlieferungen wegen Essstörungen.
Diabetes Typ 1 von Corona, Typ 2 von „3C: Computer, Cola, Chips“
Von einem 13-Jährigen erzählt Kinderarzt Achenbach, der 35 Kilo zunahm, aber an Muskeln verlor: „Die Ernährung war gleich geblieben, aber der Sport fiel weg.“ Ein Extremfall, „aber kein Einzelfall“. Denn bei anderen sah er rapide Gewichtsverluste oder die Folgen von „3C: Computer, Cola, Chips“ – erhöhter Blutdruck, steigende Fettwerte. Viel mehr Diabetes-Diagnosen zählten die Kollegen, auch vom Typ 1: „Das ist dann wohl eine Folge der Infektion. Wir müssen auch daran denken, was Corona selbst macht.“ Es habe ja im Lauf der Zeit eine Veränderung gegeben: „Am Anfang war eine Infektion bei Kindern die Ausnahme, heute ist die Ausnahme, nicht infiziert zu sein.“
Auch die Angst davor haben die Mediziner häufig gesehen: Was passiert mit mir, wenn ich erkranke? Was, wenn ich Oma und Opa anstecke? Was, wenn etwas zurückbleibt? Manche Kinder hätten „eine große Traurigkeit entwickelt“. Sie seien „teilnahmslos“, erzählten Jugendliche in Achenbachs Plettenberger Praxis, „mein einziges Ziel ist es, durch den Tag zu kommen“. Undine Waßermann sah immer wieder das Phänomen „wütende Jungs“: Wut und Verweigerung sei ihr „Trick“ zu zeigen, überfordert und hilfebedürftig zu sein. Mädchen trügen ihre Symptome eher nach innen. „Lehrer schlagen aber eher Alarm, wenn ein Stuhl durch die Klasse fliegt, als wenn ein Mädchen still darauf sitzt.“
Manche Jugendliche lernten durch das Alleinsein vieles selbst
Himmel, also alle krank in der „Generation Corona“? So ist es nun auch nicht. Es kommen ja nur die zur Behandlung, die Hilfe brauchen (oder gerade eine „U“ im Kalender stehen haben). Mancher hat vielleicht auch profitiert davon, dass der Stressfaktor Schule ausfiel: „Das könnte auch eine kurzfristige Entlastung bedeutet haben“, ahnt Mediziner Achenbach.
Und es gab ja auch die, die im Lockdown dazugelernt haben: Englisch über Computerspiele, das Alleinsein, den Wert von Familie oder eine gewisse Selbstständigkeit. „Man hat sich vieles selbst erarbeitet“, sagte Chanelle, 16, ihrem Arzt. Viele andere aber haben genau das nicht gekonnt, was eigentlich zu ihrem jugendlichen Alter gehört: „Alleine irgendwohin zu gehen, fiel aus“, sagt Michael Achenbach. „Mancher hat Autonomie nicht gelernt.“
Heranwachsende nicht zusätzlich ärgern
Die Folgen von alldem, ahnt Oliver Staniszewski, Psychotherapeut für Kinder- und Jugendliche aus Witten, „werden wir länger tragen müssen“. Sogar Jahre müssten Kinder, Eltern, die Gesellschaft mit den Konsequenzen leben. Schon jetzt verzeichnet sein Berufsstand eine vermehrte Nachfrage nach Hilfen. Die Wartezeiten aber sind dadurch noch weiter gestiegen. „Das ist nicht gut aushaltbar, eigentlich unzumutbar.“ Was zudem noch hilft, dürfe man aber – das sehen die Experten als Lehre aus der Corona-Zeit – künftig nicht wieder als erstes schließen: Jugendeinrichtungen, Sportvereine, Beratungsstellen.
Und die Jugendlichen bei allem Frust nicht noch zusätzlich ärgern. Wie sagte Finn zu seinem Kinderarzt: „Im geschlossenen Klassenraum muss ich sein. Aber draußen dürfen wir uns nicht treffen.“
>>INFO: SPRECHSTUNDEN DER KV WESTFALEN-LIPPE
In ihren öffentlichen Sprechstunden informieren Ärzte der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) Patienten über bestimmte Erkrankungen. In einer der letzten Veranstaltungen ging es um das Thema Depression, ebenfalls mit dem Schwerpunkt auf den psychischen Folgen der Corona-Pandemie.
Die Sprechstunde „Generation Corona – Was macht die Pandemie mit unseren Kindern?“ richtete sich an Eltern, Lehr- und Erziehungskräfte. Dort sei die Verunsicherung nach zwei Jahren groß, sagt Dr. Volker Schrage, Vize-Vorstandsvorsitzender der KVWL. Man reagiere „auf den gestiegenen Beratungsbedarf in den Praxen“.
In den nächsten Sprechstunden geht es im September um Makula-Degeneration und im November um Chronisch entzündliche Darmerkrankungen. https://www.kvwl.de/arzt/termine/kvwl_sprechstunde/index.htm