Ruhrgebiet. Es scheint, als explodierten die Corona-Infektionszahlen bei Jüngeren. Doch die nackten Zahlen sagen wenig. Wie Experten die Lage einschätzen.

Das NRW-Landeszentrum für Gesundheit meldet am Dienstag knapp 40.000 positive Corona-Test bei Kindern unter neun Jahren seit Beginn der Pandemie, fast 70.000 in der Gruppe der Zehn- bis 19-Jährigen. 130 Neu-Infizierte pro 100.000 Einwohner zählt der Ennepe-Ruhr-Kreis in den letzten sieben Tagen. Betrachtet man aber gezielt die Altersgruppe der Fünf- bis 14-Jährigen: liegt die Inzidenz dort am Dienstag bei 242, beinahe doppelt so hoch. Kein Einzelfall: Aktuellen Daten des RKI und einer Auswertung des ZDF zufolge übersteigen die Inzidenzen bei Kindern derzeit die der Gesamtbevölkerung bundesweit in mehr als 240 Kreisen und Städten um mehr als zehn Punkte. Sind nun, da die meisten Alten geimpft sind, die Jungen die besonders Gefährdeten? Eltern sind in großer Sorge.

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Forscher wie die renommierte Bochumer Kinderpulmologin Dr. Folke Brinkmann gingen bislang davon aus, dass Kinder und Jugendliche zwar am Infektionsgeschehen teilnehmen, aber keineswegs „Treiber der Pandemie“ sind. Noch im Februar betonte die Medizinerin, die zwei große Studien zum Thema betreut, dass Kleinkinder schon wegen ihres Körperbaus „gar nicht im gleichen Maße wie ein Erwachsener Aerosole aushusten“ könnten, also auch weniger ansteckend sind. Doch nun wächst die Skepsis.

Jeder vierte positiv Getestete in Bochum ist jünger als 20 Jahre

Denn in der Tat scheint es, als explodierten die Corona-Infektions-Zahlen bei Kindern und Jugendlichen: Herne meldet am Dienstag zwölf Prozent Infizierte unter 15 Jahren: Höchststand. Vor einem Jahr waren nicht einmal vier Prozent dieser Altersgruppe betroffen. Dortmund schloss seine Schulen, das Land gab am Freitag dem Antrag der Stadt auf Wechsel zum Distanzunterricht statt. Da lag die Inzidenz vor Ort bei 250 in der Gruppe der Fünf- bis 14-Jährigen. Witten meldete Anfang der Woche gleich zehn neue Fälle in vier Kitas und jeder vierte positiv Getestete in Bochum ist derzeit jünger als 20; schon 178 Kinder unter neun haben sich dort seit Beginn der Pandemie das Coronavirus eingefangen. Im September waren es erst 14.

Dr. Folke Brinkmann betreut zwei Studien zum Thema Kinder und Corona: Stars und CorKids. Ihre Aussage „Kinder sind keine Virenschleudern“ machte im vergangenen Jahr bundesweit die Runde.
Dr. Folke Brinkmann betreut zwei Studien zum Thema Kinder und Corona: Stars und CorKids. Ihre Aussage „Kinder sind keine Virenschleudern“ machte im vergangenen Jahr bundesweit die Runde. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Das RKI berichtet in seinem jüngsten Lagebericht von einer Verdoppelung der Inzidenz bei den 15- bis 19-Jährigen in den letzten fünf Wochen. Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, wundert das wenig: „Wir testen Kinder und Jugendliche ja auch mehr, und Erwachsene weitaus weniger!“, sagt der Solinger Mediziner. Zwischen Januar und März, bestätigt Folke Brinkmann von der Universitätskinderklinik Bochum habe sich die Zahl der Tests bei Kindern und Jugendlichen verdoppelt. Und wer suchet, der findet eben? Auch für Brinkmann sind Massentests der Hauptgrund für den nicht zu leugnenden Anstieg der Zahlen. Die Positivrate in ihren Studien liege aber seit November „konstant bei zehn Prozent“, sei in den Osterferien (!) auf 12-14 gestiegen.

62 Kinder auf der Intensivstation

Auch die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) gibt Entwarnung: Man halte es „für geboten“, heißt es in einer gerade veröffentlichten Stellungnahme, „die verfügbaren Fakten zu Hospitalisierung und Sterblichkeit von Covid-19 bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Stand April 2021 – der Öffentlichkeit bekannt zu machen“. Die DPGI führt seit März vergangenen Jahres ein Fall-Register: Bundesweit melden Kinderkliniken dort ihre stationär behandelten Covid-19-Patienten. Mitte April waren es insgesamt 1259 in 169 Krankenhäusern – etwa ein Drittel jünger als ein Jahr, ein weiteres Drittel zwischen zwei und sechs Jahren alt, das letzte Drittel zwischen sieben und 20. Auf der Intensivstation mussten 62 von ihnen betreut werden, bei vier Kindern wurde Covid-19 als Todesursache festgestellt – was bei 14 Millionen Kindern und Jugendlichen im Land einem Anteil von weniger als 0,00002 Prozent entspräche, betont die DGPI.

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Steigende Infektionszahlen bei Kindern heißen also nicht: steigende Zahlen schwerer oder tödlicher Verläufe bei Kindern. „Da geht vieles durcheinander“, erklärt Fischbach. „Infiziert bedeutet nicht krank. Kinder bleiben oft ganz asymptomatisch oder erkranken nur leicht.“ Folke Brinkmann betreut gerade in der Bochumer Universitätskinderklinik drei junge Corona-Patienten – ein Baby mit hohem Fieber, einen 16-Jährigen mit Atemnot sowie einen (schwer vorerkrankten) Säugling, der auf der Intensivstation sogar beatmet werden muss. Auch sie sagt, ja, die absoluten Zahlen bei Kindern und Jugendlichen steigen im Moment, „doch das muss man relativieren“.

Zahlen bei den Betagten sinken: Da verschieben sich auch Anteile

Denn sie gehen ja auch einher mit sinkenden Quoten bei den Betagten, von denen inzwischen die meisten geimpft sind. „Da verschieben sich die Anteile natürlich!“ In Herne etwa, wo der Prozentsatz der infizierten U-15-Jährigen innerhalb eines Jahres von vier auf zwölf stieg, sank der der infizierten Ü-80-Jährigen im selben Zeitraum von 17 auf vier. Dass die steigenden Zahlen bei den Jüngeren mit der britischen Mutante B1.1.7 zu tun habe könne, glaubt Brinkmann nicht: „Die ist ansteckender, aber sie infiziert Kinder und Erwachsene gleichermaßen“, sagt Brinkmann.

„Erwachsene stecken Kinder an, nicht Kinder Erwachsene“

In seiner Solinger Praxis macht der Kinder- und Jugendarzt Thomas Fischbach „sehr viele Abstriche“. Kinder, „die den Erreger im Rachen haben, können ihn auch weitergeben“, räumt er ein. Ergänzt aber: „In der Regel stecken Erwachsene Kinder an, nicht Kinder Erwachsene“. Untersuchungen belegten, dass ein infiziertes Kind in der Schule im Schnitt eine weitere Person infiziere – ein infizierter Lehrer aber drei bis vier weitere Menschen. Auch Brinkmanns Studien belegen das. Angesichts steigender Inzidenzen bei Jüngeren nun wieder lauter Schul- und Kita-Schließungen zu fordern, nennt Fischbach einen „Reflex“. „Wir können Kinder und Jugendliche nicht ständig von einem in den nächsten Bildungs-Lockdown schicken. Die Kollateralschäden, seelische und körperliche Nebenwirkungen fehlender sozialer Kontakte und mangelnder Bewegungsmöglichkeiten, sind immer deutlicher zu spüren.“

Wenn man „über einen wirklich konsequenten Lockdown nachdenke“, sagt Folke Brinkmann, „gehören Schulen und Kitas dazu. Aber es sind nicht die Orte, wo die meisten Übertragungen stattfinden, nicht die, denen unsere größte Sorge gelten sollte.“ Das „Hin und Her“ der Politik findet sie persönlich – auch als Mutter – viel schlimmer: „Bei einer Inzidenz von 170 zu öffnen, wenn man weiß, in drei Tagen sind wir bei 200, das kann man sich sparen.“

>>>> INFO Zahlen aus NRW

Laut Meldungen der Landesjugendämter wurden bis Mitte April in den Kindertageseinrichtungen 479 mit dem Coronavirus infizierte Kinder und 368 Beschäftigte gezählt.

In NRW gibt es rund 10 500 Kindertageseinrichtungen mit etwa 168 000 Beschäftigten.