Ruhrgebiet. Die Erschütterungen der Katholischen Kirche reichen bis in die Gemeinden. Christen fragen: Warum soll ich bleiben? Begegnungen mit der Basis.

Das Missbrauchs-Gutachten von München. Ein Ex-Papst, der Unwahrheiten zugibt. Der digitale Aufschrei homosexueller Mitarbeiter. Eine Woche nur, in der immer neue Nachrichten die katholische Kirche einmal mehr durchgeschüttelt haben. Und die Gläubigen in den Gemeinden mit. Kann man als Christ bei all dem noch bleiben – und warum?

Wütend ist Klaudia Rudersdorf, „aber auch müde“: Sie kann, sie will die Nachrichten nicht mehr hören. Fassungslos, „zutiefst betroffen und total beschämt“ reagiert Daniel Wörmann darauf. Einen „Hammer“ nennt Elisabeth Hartmann-Kulla das Gutachten von München, das ein Fehlverhalten hoher Würdenträger bei sexualisierter Gewalt in der Kirche über Jahrzehnte belegt. Ein „Schlag ins katholische Kontor“ sei das gewesen, schwer zu verarbeiten: „Ich kam mir vor wie eine Kerze, die an beiden Enden brennt.“ Und Altfrid Norpoth, der hat schon viel erlebt in dieser Kirche, „aber damit habe ich nicht gerechnet“.

Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, äußert sich zum jüngsten Missbrauchs-Gutachten.
Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, äußert sich zum jüngsten Missbrauchs-Gutachten. © AFP | Sven Hoppe

Katholik aus Essen: Verhalten des ehemaligen Papstes ist „peinlich“

Dabei könnte Kirche so schön sein. „Ein offener Ort, wo die Menschen willkommen sind“, sagt die Essenerin Rudersdorf. Sie identifiziert sich „mit der frohen Botschaft“, sie engagiert sich dafür in der Kolpingfamilie, im Diözesanrat, sie hält die Botschaft „im Kern“ für die richtige. Aber jetzt liest sie aus dem jüngsten Missbrauchs-Skandal: „Die dafür einstehen sollten, tun das nicht. Und das ist schwer auszuhalten.“ Da lebt die 58-Jährige von klein auf die „moralischen Maßstäbe“, die man ihr gepredigt hat, und dann: Hielten sich die, die predigen, nicht daran. „Je höher die Hierarchie, desto weniger gelten diese Ansprüche.“ Das sieht auch Altfrid Norpoth in Essen so: „Es geht nur um den Machterhalt des Klerus.“ Die „Vertuschungsversuche“ auch des ehemaligen Papstes findet Norpoth „peinlich“.

Das ist das Dilemma, in dem viele Katholiken gerade stecken: das überzeugte Leben im Glauben, die sinnvolle Gemeindearbeit vor Ort – und dann das Hadern mit dem großen Ganzen. Klaudia Rudersdorf erfährt, wie „der Rechtfertigungsdruck wächst“: Was machst du da noch? Warum bleibst du dabei? „Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, was Sie dazu eigentlich noch veranlasst“, berichtet Marlies Meier, Pfarrgemeinderats-Vorsitzende aus Hattingen. Daniel Wörmann, Vorsitzender des Katholikenrats in Duisburg kennt Engagierte, die „Wut, Trauer, Unverständnis“ empfinden, die sagen: „Das war’s.“ Dabei könne man „als Laie doch nichts dafür“.

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Wie oft schon hat auch Elisabeth Hartmann-Kulla gehört, sie solle doch austreten oder evangelisch werden. Seit langem macht die pensionierte Religionslehrerin, 67, aus Wattenscheid mit bei der Reformbewegung „Maria 2.0“, kämpft dort vor allem um die Gleichberechtigung in der Kirche. Selbst hat sie immer wieder darüber nachgedacht: Wieso engagierst du dich in diesem System? Eine Frage, die Mitstreiter Altfrid Norpoth,71, gut kennt: „Ich kann eigentlich keinen mehr überzeugen zu bleiben.“ Und sich selbst nur schwer: „Warum eigentlich gehst du nicht selbst?“ Das fragt sich einer, der 40 Jahre lang Kirchenämter innehatte.

Bistum Essen: „Schwere Fehler gemacht“

Im Bistum Essen wissen sie um diese Nöte. Das Münchener Gutachten habe „große Erschütterungen ausgelöst“, sagt Generalvikar Klaus Pfeffer. „Mich erreichen viele Reaktionen von Menschen, für die gerade vieles zerbricht, woran sie in unserer Kirche geglaubt haben und wofür sie sich in ihrem Leben eingesetzt haben“, sagt Pfeffer offen. „Da ist viel Vertrauen zerstört.“ Viele, selbst engagierte Mitglieder stellten sich gerade die Frage, ob sie in dieser Kirche noch zuhause sein können. Der Generalvikar kennt die „dunklen Seiten“ der eigenen Bistumsgeschichte, der Missbrauch-Skandal spielt auch hier: Da seien „schwere Fehler gemacht worden; und sehr viele Menschen leiden bis heute darunter“.

„Jesus schämt sich“: In Dormagen ließ Pfarrer Klaus Koltermann alle Kreuze und Jesusfiguren verhüllen.
„Jesus schämt sich“: In Dormagen ließ Pfarrer Klaus Koltermann alle Kreuze und Jesusfiguren verhüllen. © dpa | Roberto Pfeil

Aus Scham ließ im rheinischen Dormagen ein Pfarrer am Wochenende die Kreuze seiner Pfarrkirchen verhüllen. Fassungslos und erschüttert erklärte Klaus Koltermann: Es sei „schwierig zu zeigen, dass Jesus trauert. Aber ich bin mir sicher, dass er Schmerz über das Leid der Opfer und Scham für die Täter empfindet“. Sein Pfarrgemeinderat lobt die Aktion in der Rheinischen Post als „wunderbares Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen und ein Zeichen, dass es in der Kirche noch Kirchenvertreter und Menschen gibt, die diese Liebe Gottes ernst nehmen“.

Helfen beim „Ruck der Veränderung“

Viele Christen allerdings haben der Kirche bereits den Rücken gekehrt, noch mehr aber bleiben. Generalvikar Pfeffer berichtet von „Menschen, die uns ermutigen, unseren Weg weiterzugehen, mit dem wir aus der schlimmen Vergangenheit lernen und Konsequenzen ziehen wollen“. Man müsse und wolle „die katholische Kirche verändern, damit sie wieder ein Ort sein kann, an dem sich Menschen ohne Angst zuhause fühlen können“. Dafür aber brauche es viele Gläubige, die nicht resignierten und „gerade jetzt mithelfen, dass ein Ruck der Veränderung durch die Kirche geht“.

Klaudia Rudersdorf gehört dazu, gehört zu denen, „die nicht gehen“, die „unbeirrt bleiben in dem, was ich umsetzen kann“. Das Kümmern um Benachteiligte ist nur eines, „man kann etwas Gutes tun“, könne ehrenamtlich versuchen, Kirche zu gestalten. Daniel Wörmann in Duisburg sagt, er könne bleiben, weil er Kirche vor Ort anders erlebe als die Amtskirche: „Das sind zwei Welten.“ Auch die Dormagener Gemeinderatsvorsitzende Birgit Linz-Radermacher will weiter an die Kirche glauben: „Es ist noch meine Kirche. Und zwar da, wo die Botschaft Jesu gelebt und an die Opfer gedacht wird.“ Kollegin Marlies Meier in Hattingen will „Mahnerin“ sein, als Kirchengemeinde „ein Zuhause bieten“.

„Die Kirche gehört nicht abgeschafft!“

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Denn es gibt auch die, die alles hinnehmen wie bisher, die zu Hartmann-Kulla sagen, man solle doch „das Papst-Bashing lassen“ und den alten Mann in Ruhe. Gerade die ältere Generation, in der katholischen Kirche groß geworden, sagt Klaudia Rudersdorf, „verliert die Bindung nicht“. Auch für diese Christen ist Elisabeth Hartmann-Kulla entschlossen zu kämpfen: „Die Kirche gehört nicht abgeschafft!“ Sie selbst ist verwurzelt in ihrer Gemeinde, übernimmt etwa Beerdigungsdienste oder Laien-Predigten. „Ich will mir die Kirche nicht nehmen lassen.“ Und sie nicht „den Ewiggestrigen überlassen“.

Am liebsten nennt sie sie gar nicht mehr „Katholische Kirche“, versucht, sich damit von der Amtskirche zu distanzieren. „Meine katholische Glaubensgemeinschaft“, sagt sie. Auch Altfrid Norpoth hat ein neues Wort gefunden: Er will nicht römisch-katholisch sein, „Rom ist weit weg“, das hat er schon als Kind gelernt. Er nennt sich „jesuanisch-katholisch“. Wenn jemand fragt. Aber auch er will der Kirche nicht von der Seite weichen. Reformieren, sagt Altfrid Norpoth, der fest an Gott und die Auferstehung glaubt, könne man sie nur von innen. In Wattenscheid wissen sie, was Elisabeth Hartmann-Kulla gern sagt, aus voller Überzeugung: „Manchmal hilft nur Beten.“

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>>INFO: KARDINAL MARX WILL IM AMT BLEIBEN

Kardinal Reinhard Marx will nach dem erschütternden Gutachten über den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Erzbistum München und Freising vorerst im Amt bleiben. „Jetzt geht er einfach aus dem Feld und macht sich vom Acker“ - so würde es sich andernfalls für ihn anfühlen, sagte Marx am Donnerstag in München. Das Gutachten habe eindringlich gezeigt, dass Aufarbeitung als Bestandteil der Erneuerung der Kirche zwingend geboten sei.

Die Gutachter werfen auch ihm zwei Fälle von Fehlverhalten beim Umgang mit Verdachtsfällen vor. Er hätte engagierter handeln können, gab Marx zu. Es sei für ihn persönlich unverzeihlich, die Betroffenen übersehen zu haben.