Essen. Der Missbrauchsskandal erschüttert aufs Neue die katholische Kirche – gerade im Bistum Essen. Bischof Franz-Josef Overbeck geht auf Betroffene zu

Fast ihr ganzes Leben sind sie gegen dicke Mauern des Schweigens gerannt: Überwiegend Männer, die als Messdiener, Heimkinder oder Chorknaben von katholischen Priestern und zum Teil wohl auch von Ordensfrauen sexuell missbraucht worden sind. An diesem ungemütlichen Januar-Freitag stehen sie vor dem Essener Bischofssitz und zünden demonstrativ Kerzenlichter an. Am Tag nach der Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens der Erzdiözese München, das die ganze katholische Kirche aufs Neue erschüttert, ist ihr stiller Protest auch ein Moment der Genugtuung.

Grablichter erinnern auch an Missbrauchsopfer, die Selbstmord begangen haben

Verschiedene Kirchen-Initiativen haben zu der Aktion auf dem Burgplatz aufgerufen. Sie entzünden Kerzen für diejenigen, die nicht die Kraft und den Mut haben zu sprechen. Die Grablichter erinnern auch an Opfer, die aus Verzweiflung Selbstmord begangen haben.
Verschiedene Kirchen-Initiativen haben zu der Aktion auf dem Burgplatz aufgerufen. Sie entzünden Kerzen für diejenigen, die nicht die Kraft und den Mut haben zu sprechen. Die Grablichter erinnern auch an Opfer, die aus Verzweiflung Selbstmord begangen haben. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Ein paar Dutzend Grablichter brennen auf dem Burgplatz, daneben steht symbolisch ein Kindersarg. „Wir haben uns an die Öffentlichkeit gewagt“, sagt Markus Elstner aus Bottrop stellvertretend für etwa zwanzig anwesende Missbrauchsopfer. „Die Kerzen sind für diejenigen, die nicht die Kraft und den Mut besitzen darüber zu sprechen. Und für diejenigen, die zu Drogen und Alkohol gegriffen haben oder aus lauter Verzweiflung Selbstmord begangen haben.“

Bischof Franz-Josef Overbeck rechnen sie hoch an, dass er mit Generalvikar Klaus Pfeffer vor die Tür tritt und auf sie zukommt. Für ihn gehe es nicht nur darum, den Missbrauchsskandal zu überwinden, sondern auch die Strukturen, die ihn möglich gemacht haben. Der Oberhirte spricht von „Taten, die viel mit Vertuschung, viel mit Lüge und viel mit Gewalt zu tun gehabt haben“. Diese Taten hätten nicht nur die Würde von Menschen mit Füßen getreten. Overbeck spricht von einer „existenziellen Krise der Kirche“, die er nie für möglich gehalten habe.

Missbrauchsopfer über den früheren Papst Benedikt XVI.: „Er ist unglaubwürdig“

Markus Elstner aus Bottrop zählt zu den Initiatoren der Gedenk-Veranstaltung auf dem Essener Burgplatz. Als Kind ist er von Skandal-Priester Peter H. sexuell missbraucht worden. Seit Jahren kämpft er darum, dass die ganze Wahrheit ans Tageslicht kommt.
Markus Elstner aus Bottrop zählt zu den Initiatoren der Gedenk-Veranstaltung auf dem Essener Burgplatz. Als Kind ist er von Skandal-Priester Peter H. sexuell missbraucht worden. Seit Jahren kämpft er darum, dass die ganze Wahrheit ans Tageslicht kommt. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Markus Elstner, ist nicht der einzige, der von dem Priester Peter H. sexuell missbraucht worden ist. Auch der gebürtige Essener Wilfried Fesselmann ist zum Burgplatz gekommen. Im Sommer 1979 nach einer Ferienfreizeit von Messdienern ist er vom damaligen Kaplan Peter H. in dessen Essener Wohnung sexuell missbraucht worden. „Meiner Mutter musste ich versprechen, dass ich schweigen würde“, berichtet er. Erst nach ihrem Tod fühlt er sich nicht mehr an dieses Versprechen gebunden. Seit bald 40 Jahren kämpft Fesselmann darum, dass die volle Wahrheit ans Tageslicht kommt.

Als das Bistum Essen von den schweren Vergehen des Kaplans erfährt, schieben sie ihn ins Erzbistum München ab, in dem Joseph Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., das Sagen hat. Das neue Missbrauchsgutachten weist nach, dass der höchste Kirchenführer den Fall Peter H. kannte und später womöglich dazu gelogen hat. Fesselmann sagt über den emeritierten Papst: „Er ist unglaubwürdig.“ Der Wirtschaftsprüfer leidet noch immer unter den Folgen des Missbrauchs. Er erwähnt Panikattacken und dass er 15 Jahre lang arbeitsunfähig gewesen ist.

Als das Gutachten am Donnerstag vorgestellt wird, erlebt Markus Elstner „eine Achterbahnfahrt der Gefühle.“ Endlich komme die Wahrheit ans Licht, sagt er. Doch zufrieden sei er erst, wenn alle Missbrauchsfälle aufgearbeitet seien.

Forderung nach weiterer Aufarbeitung: „Die Kirche muss ihre Archive öffnen“

„Wir sind Papst“ steht in Erinnerung an die berühmte Schlagzeile der Bild-Zeitung auf dem Sticker. Jetzt ist er überschrieben mit den Worten: „Ich bin wütend“. Eine Anspielung auf die mutmaßliche Mitwisserschaft des früheren Münchener Erzbischofs Joseph Kardinal Ratzinger im Missbrauchsfall des von Essen nach München versetzten Kaplans Peter H.
„Wir sind Papst“ steht in Erinnerung an die berühmte Schlagzeile der Bild-Zeitung auf dem Sticker. Jetzt ist er überschrieben mit den Worten: „Ich bin wütend“. Eine Anspielung auf die mutmaßliche Mitwisserschaft des früheren Münchener Erzbischofs Joseph Kardinal Ratzinger im Missbrauchsfall des von Essen nach München versetzten Kaplans Peter H. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Auch die Medizinhistorikerin Sylvia Wagner ist zum Domplatz gekommen. Vor sechs Jahren hat sie den Skandal um Medikamentenversuche im Franz Sales Haus enthüllt. „Jahrelang wurde Missbrauchsopfern in der katholischen Kirche nicht geglaubt, heute sehen wir, wo die wahren Lügner und Vertuscher sitzen“, sagt sie. Im jüngsten Missbrauchsgutachten sieht sie nur einen Etappensieg. „Die Kirche muss ihre Archive öffnen und den Zugang zu Protokollen, Briefen und Akten ermöglichen – natürlich auch in Essen.“ Wagner schließt sich der Forderung an, die jetzt immer häufiger erhoben wird. „Missbrauchsopfer brauchen eine unabhängige Anlaufstelle, die nichts mit der Kirche zu tun hat.“

Der Skandal-Priester Peter H. (74), zwischenzeitlich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und mehrfach versetzt, lebt heute zurückgezogen in Schönebeck, nur einen Steinwurf entfernt von St. Antonius Abbas. Stellungnahmen zu seinen Vergehen lehnt er. „Er ist ein ruhiger Mensch“, sagt eine Nachbarin über den Mann, der mitverantwortlich für die schweren Erschütterungen der Kirche ist.

In einer Erklärung des Bistums über den Priester heißt es: „H. hat eine Reihe von Auflagen erhalten, die u.a. zum Ziel haben, dass er sich intensiv mit seinen Taten und dem großen seelischen und körperlichen Leid auseinandersetzt, das er Betroffenen zugefügt hat. Die Einhaltung dieser Auflagen wird kontinuierlich kontrolliert. H. erhält reduzierte Ruhestandsbezüge und musste bereits Kosten, die im Zusammenhang mit den ihm zur Last gelegten Taten entstanden sind, übernehmen.“

Entschädigungen für Opfer: Bischof stellt Entscheidungen in nächster Zeit in Aussicht

Bischof Franz-Josef Overbeck betet zusammen mit Missbrauchsopfern und Teilnehmern der Gedenk-Veranstaltung das Vaterunser. Aber längst nicht alle Lippen der auf dem Burgplatz Versammelten bewegen sich.
Bischof Franz-Josef Overbeck betet zusammen mit Missbrauchsopfern und Teilnehmern der Gedenk-Veranstaltung das Vaterunser. Aber längst nicht alle Lippen der auf dem Burgplatz Versammelten bewegen sich. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Den leidgeprüften Opfern geht es auch eine angemessene finanzielle Entschädigung. Wilfried Fesselmanns Anwalt bereitet eine Klage vor, in der eine Million Euro Schadensersatz verlangt wird: „Wenn die Kirche die Täter finanziert, dann soll sie es auch für die Opfer tun.“ Er gibt an, bislang 5000 Euro Entschädigung erhalten zu haben.

Bischof Overbeck zeigt Verständnis für die Entschädigungsforderungen. „Da ist sicherlich noch Luft nach oben“, sagt er. „Wir selber als Bistum sind auch auf dem Weg, entsprechende Entscheidungen in nächster Zeit zu treffen.“

Der Oberhirte spricht von solidarischem Miteinander und am Ende beten sie gemeinsam das Vaterunser. Doch längst nicht alle Lippen bewegen sich, einige haben mit der Kirche völlig gebrochen. „Ich konnte nicht beten“, sagt eine verbitterte Teilnehmerin.