Ruhrgebiet. Corona hat den Verein „Mentor“ schrumpfen lassen, dabei ist zugleich der Bedarf bei den Schulkindern gewachsen: Leselernhelfer dringend gesucht!

Miral ist gerade ziemlich außer Puste, dabei sitzt er ganz still. Der Neunjährige läuft nicht, er liest. Alle paar Silben muss er tief Luft holen, „die Vereinten Na...“ – tiefer Atemzug – „tionen“ haben die Kinderrechte „auf-...“ – schweres Keuchen – „-geschrieben“. Miral macht keine Fehler, er kriegt die Wort-Ungetüme schnell klein, aber dass es ein Kampf ist, kann jeder hören. Nur ist zum Glück keiner da, der es hört, das macht es leichter. Nur seine Mitstreiterin im Duell mit dem Text: Leselernhelferin Elke Döring.

Die Waffen der 65-Jährigen sind Geduld, Zuneigung – und Zeit. Einmal in der Woche setzt sich Elke Döring mit diesem Kind in sein leeres Klassenzimmer und lässt es lesen. „Trust me“ steht heute auf Mirals Pullover, „Vertrau mir“, und vielleicht ist damit schon alles gesagt über die Beziehung zwischen diesen beiden: Aus Vertrauen wächst gerade hörbares Selbstvertrauen. Elke Döring hat schon so manchem Kind auf den Lebensweg geholfen, indem sie ihm das Lesen beibrachte – oder wenigstens den Buchstabensalat im Kopf sortierte. „Ein wunderbares Ehrenamt.“

An Bochums Sonnenschule liest Miral aus der Pinguinklasse in „Greg’s Tagebuch“.
An Bochums Sonnenschule liest Miral aus der Pinguinklasse in „Greg’s Tagebuch“. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Mentoren werden „gehandelt wie Juwelen“

Inzwischen koordiniert die ehemalige Bankerin die Kollegen des Vereins „Mentor“ in Bochum. Dafür braucht der Verein, der sich vor bald 20 Jahren vorgenommen hat, die Lesefähigkeit bei Kindern zu verbessern, längst eigene Leute. So viele sind sie geworden, in zwölf Städten des Ruhrgebiets und an seinem Rand haben sie sich organisiert, aber immer noch sind sie zu Wenige, um die Lernlücken zu stopfen: zu viele Grundschüler, die nicht richtig lesen können, zu wenige, die aus eigenem Antrieb lesen. Die Mentoren, sagt in Bochum der Schulleiter Mario Zappalà, ersetzen, „was Schule und Eltern nicht mehr zu leisten vermögen“. Sie sind diejenigen, die sich hinsetzen, zuhören, zum Schmökern animieren: ein lesendes Vorbild, nur für dieses eine Kind.

Weshalb sie „gehandelt werden wie Juwelen“, wie die Bochumer Vorsitzende Heidrun Abel sagt. Nicht nur bei den Lehrkräften, die förmlich betteln um die Leselernhelfer: Erst kürzlich wählte eine Lehrerin aus zwölf Kindern mit dringendem Bedarf vier, um dann doch nur für eines Unterstützung zu bekommen. Auch bei den Kindern: Die verhandeln schon auf dem Schulhof, wer denn den Mentoren, die Mentorin, übernehmen darf, wenn das betreute Kind zur weiterführenden Schule wechselt. Eine Person, die nur für mich kommt! Eine „Leseoma“ zu haben wie Elke Döring, gilt als Belohnung, als Privileg.

Im Corona-Lockdown wuchsen bei vielen Kindern die Lernlücken

„Ohne Lesekompetenz funktioniert Bildung nicht“: Heidrun Abel vernetzt die Lesehelfer im Ruhrgebiet.
„Ohne Lesekompetenz funktioniert Bildung nicht“: Heidrun Abel vernetzt die Lesehelfer im Ruhrgebiet. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Allein, durch Corona haben sich zuletzt große Löcher aufgetan: Lernhelfer, meist ältere Menschen, die aus dem Berufsleben schon ausgeschieden sind, trauen sich nicht mehr an die Schulen, aus Angst vor einer Infektion. Der 90-Jährige, der nach zwei Monaten voller Sehnsucht nach den Kindern zurückkam, war dabei eine Ausnahme. Zugleich aber wuchs durch den Lockdown die Zahl der Kinder, die den Anschluss verloren haben. Gerade bei jenen, die online nicht oder nur schwer erreichbar waren, oder wo Eltern nicht helfen konnten, sagt Heidrun Abel, seien „große Lücken entstanden“. Zweitklässler, die nach der monatelangen Pause in die Schulen zurückkehrten, heißt es, seien eigentlich Erstklässler: Sie haben, das muss man so sagen, das Lesen einfach nicht lernen können.

Ohnehin sagt Mario Zappalà, Rektor der Sonnenschule in Bochum-Weitmar, „wachsen die Kinder in einer anderen Welt auf“. Immer mehr Computerspiele, „soziale“ Medien und Texte nur noch auf dem Tablet, immer weniger Familien, in denen noch gelesen wird, in denen es überhaupt noch Bücher gibt. „Dabei werden die Ansprüche immer höher.“ Was aber passiert mit einem kleinen Menschen, der gar nicht weiß, was für ein Schatz ein Buch sein kann? Der keine Fantasie entwickelt, weil er keine Geschichten kennt; sich keine Lebensziele ausdenken kann, weil er von anderen noch nie hörte? Schon deshalb, sagt Zappalà, seien die Mentoren „aus der Schule gar nicht mehr wegzudenken“. Er hat erlebt, welche Fortschritte Kinder machen, wie sie staunen, dass sie plötzlich lesen können, und merken: „Da passiert was mit mir.“ Da passt einer der Lieblingssätze von Heidrun Abel: „Ohne Lesekompetenz funktioniert Bildung nicht.“

Miral (9) kann jetzt sogar schon Texte überfliegen – und erfassen

In der Pinguinklasse beugt sich Miral heute über „Greg’s Tagebuch“, Band 2; es heißt „Gibt’s Probleme?“. Der Neunjährige ist mit seinen Eltern aus Syrien gekommen, da war er noch klein. Vor der Tür wird gleich seine kleine Schwester warten, sie möchte auch so gern ein Mentorenkind sein. Miral sitzt mitten im leeren Raum, die Maske im Gesicht, mit dem Zeigefinger spießt er die Wörter auf und holt tief Luft. „Langsam!“, mahnt Elke Döring. Vorn neben der Tafel hängt dieses Plakat: „Was Kinderohren brauchen: „Ich glaub an dich. Gut gemacht...“ Sonst sitzt Miral hier mit Kindern, die Paula und Leon heißen, aber auch Elif und Yusuf, vielleicht lachen sie manchmal, wenn er so atemlos liest.

Ein Bild von 2019: Mentorin Paula Poppinga mit einer kleinen Tamilin in Dortmund.
Ein Bild von 2019: Mentorin Paula Poppinga mit einer kleinen Tamilin in Dortmund. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Bei Elke Döring wird auch gelacht, aber nur über den Waschbär, der neulich das Vogelfutter in ihrem Garten fraß und über den Witz der Woche, der in der Kinderzeitung steht. Da steht heute auch was über Kinderrechte drin, und hinterher gibt es ein Quiz: „Jungen haben mehr Rechte als Mädchen.“ Richtig? Miral schüttelt heftig den Kopf. Dass Kinder bei Kummer zu ihren Eltern gehen dürfen, wird aber erwähnt, oder zu ihrem Lehrer, „oder zu ihrem Lese-Mentoren“, sagt Elke Döring. Erwischt, Miral guckt etwas empört: „Wo steht das?“

„Viel Spaß beim Lesen, Miral!“

Er hat das nirgends gelesen, obwohl es wohl stimmt. Gelesen hat er auch mal eben, was letzte Woche mit Greg passiert ist, er hatte das vergessen. Rasch überfliegen, das hätte er vor Monaten noch nicht gekonnt. Hast du zuhause Bücher, Miral? „Ja“, der Junge strahlt, „Greg’s Tagebuch Nummer 1“. Auch das hat er mit Elke Döring schon durch. Die muss Miral heute bremsen, „nur noch eine Seite, dann ist aber Schluss“. Danach kommt das selbstbemalte Lesezeichen ins Buch: „Viel Spaß beim Lesen, Miral!“

>>INFO: KONTAKTADRESSEN VON MENTOR e.V.

Im Mentor-Netzwerk Ruhr gibt es inzwischen zwölf Vereine – in Bochum,Bottrop, Dortmund, Ennepetal, Essen, Gelsenkirchen, Gevelsberg, Hattingen, Herne, Schwelm, Sprockhövel und Witten. Der erste war 2007 der Verein in Bochum, der auch heute noch der größte ist. Es fehlen noch Mentor-Vereine im Westen des Reviers: Duisburg, Oberhausen, Mülheim.

Im Juli 2020 zählte das Netzwerk 1400 Mentoren an beinahe 200 Schulen. Rund zehn Prozent haben ihre ehrenamtliche Arbeit aber in der Corona-Krise aufgegeben, ein Viertel pausiert derzeit. Menschen, die sich gern engagieren möchten, brauchen nur eine regelmäßige Stunde Zeit in der Woche, um mit einem Kind an dessen Schule zu lesen. Eine pädagogische Ausbildung ist nicht nötig. Kontakt: Netzwerk Mentor-Ruhr, Kortumstraße 37, 44787 Bochum, Tel. 0234 - 89 01 31 39.

Auf mentor-bundesverband.de stehen alle Vereine mit ihren jeweiligen Ansprechpartnern verzeichnet.