Bochum. Der Verein „Mentor“ unterstützt Kinder beim Lesenlernen. Ehrenamtliche machen nicht nur in Bochum und nicht nur Grundschülern Lust aufs Buch.

Manche Wörter sind wie Berge. Suchend rührt die Zunge zwischen den Lippen, zehn kleine Finger krampfen sich um die Buchstaben, als müsste man sie festhalten: „SCH-L-E-CHT“. Das ist aber auch schwierig und der kleinen Soraya vielleicht deshalb so fremd, weil sie inzwischen ganz G-U-T lesen kann. „Bravo“, steht auf dem Buch, das ihre Leselernhelferin heute für sie mitgebracht hat.

Renate Müller ist eine von 362 Ehrenamtlichen, die der Bochumer Verein „Mentor“ in die Schulen schickt, um dort eine Stunde in der Woche mit einem Kind zu lesen, besser: lesen zu üben. Eine, die den Überblick behält im Buchstabensalat, obwohl sie gar keine Lehrerin ist – aber Leserin. Was man heute nur noch von jedem zweiten Mädchen behaupten kann; bei den Jungen liest allenfalls ein Drittel regelmäßig ein Buch, 25 Prozent der männlichen Jugendlichen tun das Studien zufolge gar nicht.

Kritik an Eltern

Dabei wäre das die Kür, es hapert indes schon an der Pflicht. Soraya zum Beispiel, die Achtjährige, findet Lesen „anstrengend“. Das ist zu sehen an ihrer gerunzelten Stirn über der Brille, man kann es hören an ihrem tonlosen Silbenkleben; wenn Sorayas Atem nicht mehr ausreicht für das „Feuerspucken“ von Louis, dem Drachen, wirft sie ungeduldig die Zöpfe nach hinten. Zuhause, behauptet die Zweitklässlerin, lese sie aber auch. „Die Mama hat ein dickes Buch.“ Eins?

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„Das Lesenlernen“, sagt Jürgen Uschmann, Leiter der Grundschule Dahlhausen, „kommt von elterlicher Seite zu kurz.“ Von anderen Seiten aber auch: Fernsehen und Internet haben das gedruckte Wort verdrängt, Lehrer haben kaum mehr Zeit für Einzelförderung. Mentoren schon: „Wir schenken den Kindern eine Stunde in der Woche, nur für sie“, sagt Bochums Vereinsvorsitzende Heidrun Abel. „Das kennen viele gar nicht mehr.“

Wie sie auch viele Wörter nicht kennen – und deshalb nicht erkennen können. Mentor Wolfgang Brauneck wollte Schülern kürzlich Geschichten aus der Wüste erzählen. Er scheiterte am Unwissen darüber, fand sich wieder in „Sand“, „Dünen“, „Hitze“. Der Mensch, heißt es, könne nur so weit denken, wie sein Wortschatz reicht: Der von Braunecks Kindern reichte nicht einmal bis Afrika. Aber auch daran arbeiten die Leselernhelfer: fragen nach, ob die Schüler verstehen, was sie lesen, reden mit ihnen. „Dass sie über Erlebtes sprechen, stärkt ihren aktiven Wortschatz“, sagt Schulleiter Uschmann.

Schulen sind begeistert

Es macht sie zudem stärker für andere Fächer. „Wer die Textaufgaben nicht versteht, ist auch in Mathe gelackmeiert“, sagt Brauneck, der Physiker ist. Die Schulen sind jedenfalls begeistert: „Unsere wichtigsten Partner“ nennt die Rektorin einer Sekundarschule die Mentoren, sie seien „das emotionale Band zwischen Kinderherz und Lernstoff“. Ein Grundschul-Leiter zitiert Astrid Lindgren: „Wie die Welt von morgen aussehen wird, hängt in großem Maß von der Einbildungskraft jener ab, die gerade jetzt lesen lernen.“

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Dabei hat es Soraya daran gar nicht gemangelt. So viel Fantasie hat das Kind, dass es nicht las, sondern riet, als Renate Müller es kennen lernte. „Sie hat die Bilder angeschaut und neue Geschichten erfunden.“ Mit Frau Müller an ihrer Seite kämpft sich Soraya nun durch die harte Wirklichkeit „peitschender Zweige“, schafft mit dem „Baumhaus“ ein Wortpaar, das in ihrer städtischen Lebenswelt nicht zusammengehört, und das „Geschwisterchen“. „Du hast doch einen Bruder“, erklärt Renate Müller. Ach so, das hätten die Autoren aber einfacher schreiben können.

Die Nachfrage wächst auch in anderen Städten

Seit 2007 gibt es „Mentor“ in Bochum, inzwischen auch in Gelsenkirchen und im Ennepe-Ruhr-Kreis. Längst sind erste Leselernhelfer den Grundschulen entwachsen, arbeiten auch an weiterführenden Schulen, gar an Gymnasien. Schon weil es auch dort immer mehr Kinder gibt, für die Deutsch nicht die Muttersprache ist. Und die Nachfrage wächst. In Gelsenkirchen betreuen 120 Mentoren 160 Kinder, in Sprockhövel sind es gut 100 zu 100. In Bochum hat sich die Zahl der Helfer binnen fünf Jahren mehr als verdoppelt. Dort bekommen 440 Kinder an 57 Schulen Lesehilfe, die Lehrer wünschten sich: noch mehr.

Die Kinder auch. Sie verstehen die Stunde nicht als Nachhilfe, sondern als Belohnung. Was am schönsten ist am Lesen mit Frau Müller, Soraya? „Alles.“ Über ihr, an der Wand der Schulbibliothek, hängt ein Poster: „Bücher machen kleine Helden.“

„Mentor“, der Verein der Leselernhelfer, wurde 2003 in Hannover gegründet, als Initiative von Freiwilligen zur Förderung von Sprach- und Lesekompetenz. Bochum hat seit 2007 seinen eigenen Verein, der seither stetig wächst.

Um die wachsende Nachfrage auch aus anderen Städten im Ruhrgebiet bedienen zu können, regt Bochums Erste Vorsitzende Heidrun Abel die Gründung weiterer Ortsvereine an. Kontakt: www.bochum-mentor.de, Tel. 02327 - 798 13.