Düsseldorf. NRW investiert viel Geld in Aufholprogramme. Doch Schulen haben viel Mühe, die Wissenslücken der Kinder zu schließen.

Lehrer- und Schulleiterverbände bezweifeln, dass die durch die Coronakrise entstandenen Wissenslücken bei Schülerinnen und Schülern zeitnah geschlossen werden können. „Das gesamte Schuljahr wird noch im Zeichen von Corona stehen. Die Schulen wurden von der Krise in einem falschen Moment erwischt, weil sie unter Lehrkräftemangel leiden“, sagte Wibke Poth, Vize-Landesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) dieser Redaktion. Viele Schulen in NRW stehen nun vor der Frage, an welcher Stelle auf Lerninhalte verzichtet werden könnte und welche Kinder und Jugendlichen jetzt besonders gefördert werden sollten.

Den Schulen stehen 430 Millionen Euro aus Aufholprogrammen zur Verfügung

Die NRW-Landesregierung leistet mit eigenen und mit Bundesmitteln erhebliche Investitionen in das Aufholprogramm für Schüler. Mit dem Aktionsprogramm „Ankommen und Aufholen“ und seinen Teilprogrammen stehen den Schulen in NRW rund 430 Millionen Euro zur Verfügung. „Unsere Extra-Angebote stoßen auf große Nachfrage, und ich bin sehr zufrieden mit dem Start in den ersten Monaten“, sagte NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) auf Nachfrage. Gerade die „Extra-Zeit“-Angebote in den Ferien seien ein Erfolg gewesen.

Der Umfang der Unterstützung durch das Land stößt in den Schulen durchaus auf Anerkennung. Doch der Teufel steckt im Detail. Denn die pandemiebedingten Wissenslücken sind von Schulform zu Schulform und von Schule zu Schule sehr unterschiedlich.

Bildungsforscher Köller: Geld nicht mit der "Gießkanne" verteilen

Nach Erkenntnissen des Bildungsforschers Prof. Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Instituts für Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, beträgt im Grundschulbereich der Rückstand in den Kernfächern Deutsch und Mathematik im Schnitt etwa ein Viertel Schuljahr. „In der Sekundarstufe I ist dieser Rückstand geringer, wir schätzen sechs bis acht Wochen. Für die Oberstufe haben wir keine belastbaren Befunde“, sagte Köller der Zeitschrift „Schul-Verwaltung NRW“. Die Ergebnisse der Abiturprüfungen deuteten aber darauf hin, „dass es hier womöglich überhaupt keine Rückstände gegeben hat“.

Der renommierte Forscher plädiert dafür, das Geld aus dem Aufholprogramm nicht nach dem „Gießkannenprinzip“, sondern gezielt zu verteilen. Es müsse für die „wirklich betroffenen Kinder und Jugendlichen“ zur Verfügung stehen.

Schulleiter: "In welcher Zeit sollen die Lücken geschlossen werden?

Harald Willert, Vorsitzender der Schulleitungsvereinigung (SLV) in NRW, sieht die größte Hürde bei der Umsetzung des Aufholprogramms in den Schulen. „Die Schülerinnen und Schüler haben einen festen Stundenplan. In welcher Zeit sollen die Lücken aufgearbeitet werden?“ Zudem fehle an vielen Schulen das dafür nötige Personal. An manchen Schulen in NRW seien 20 Prozent der Stellen nicht besetzt.

Ein Überblick über die Argumente:

430 Millionen Euro stehen den Schulen in NRW zur Verfügung, um die pandemiebedingten Wissenslücken bei Schülern zu schließen. Eine gewaltige, Summe, die sinnvoll angelegt werden muss. Und hier beginnen die Probleme:  Es fehlen Lehrpersonal und Zeit. Ein Überblick über die Lage:

Das leistet das Land NRW

„Die Landesregierung unternimmt große Anstrengungen, damit unsere Schülerinnen und Schüler pandemiebedingte Lernlücken rasch und umfassend schließen können“, sagte NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) dieser Redaktion. Gerade die „Extra-Zeit-Angebote“ in den Ferien seien ein Erfolg gewesen. So gehe es auch weiter.

Laut Landesregierung konnten bisher im Programm „Extra-Zeit“ mehr als 11.000 außerschulische Bildungs- und Betreuungsangebote genehmigt werden. Mit den Programmen „Extra-Personal“ und „Extra-Geld“ erhielten die Schulen weitere Hilfe. So seien bis Ende September fast 250 befristete Stellen online ausgeschrieben gewesen, heißt es aus dem Schulministerium.

Das fordern Lehrer

Die Bildungsgewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) begrüßt die Bemühungen des Landes. „Das Aufholprogramm der Landesregierung ist gut und richtig“, sagt GEW-Landesgeschäftsführer Michael Schulte dieser Redaktion. Doch sei es völlig unklar, wie groß die Lücken überhaupt seien und wer Unterstützung benötige, so Schulte.

„Manche Schülerinnen oder Schüler sind perfekt durch die Pandemie gekommen. Doch es gibt auch diejenigen, von denen Lehrer sagen: Wir haben sie verloren.“ Daraus leite sich eine Hauptforderung der GEW ab: „Man muss differenziert auf die Schüler zugehen und ihnen Angebote machen“, so Schulte. Das müsse in die schulischen Abläufe integriert werden und dürfe nicht in den Ferien geschehen, „sonst erreicht man wieder die Schülerinnen und Schüler nicht, die eine Unterstützung besonders nötig haben.“

Wibke Poth, Vize-Landesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), sagt im Gegensatz zu Michael Schulte: „Die Lernrückstände der Schülerinnen und Schüler dürften den allermeisten Lehrkräften jetzt gut bekannt sein.“ Nun gehe es ums Aufholen. „Man kann unmöglich 100 Prozent des versäumten Lernstoffes nachholen, also stellt sich die Frage: Was ist verzichtbar? Diese Frage müssten die einzelnen Schulen für sich beantworten.

Es sei gut gewesen, dass die Schulministerin signalisiert habe, die Kinder sollten erstmal im neuen Schuljahr ankommen. „Inzwischen aber sitzen die Lehrkräfte zwischen den Stühlen: Sie wollen den Kindern und Jugendlichen einerseits Zeit geben zum Ankommen, andererseits sitzen ihnen Notwendigkeiten wie Klassenarbeiten und Zeugnisse im Nacken.“

Die Sorgen der Schulleiter

Harald Willert, Vorsitzender der Schulleitungsvereinigung (SLV) in NRW, fragt angesichts fester Stundenpläne: „In welcher Zeit sollen die Lücken aufgearbeitet werden?“ Zudem fehle an vielen Schulen das dafür nötige Personal. Willert ärgert sich über Aussagen aus der Politik, die Schulen seien insgesamt gut durch die Pandemie gekommen. „Die Wahrheit ist: An manchen Schulen hat fast kein regulärer Unterricht stattgefunden. Dann fällt die Französische Revolution eben weg.“ Ähnliches gelte in anderen Fächern. Man dürfe nicht glauben, man könne dieses Pandemie-Jahr mit Aufholmaßnahmen reparieren. Das werde nur punktuell Erfolg haben.

Schüler rufen nach Psychologen und Sozialarbeitern

Ilayda Dogan (18) aus dem Vorstand der Landesschülervertretung (LSV) NRW besucht das Albert-Schweitzer-Gymnasiums in Plettenberg. Sie sagt: „Manche waren verzweifelt, weil sie beim Stoff nicht mehr mitkamen und keiner da war, der helfen konnte. Die Voraussetzungen waren in den Schulen und auch in den Familien sehr unterschiedlich. Diese Schülerinnen und Schüler stehen jetzt unter besonderem Druck.“ Laut LSV müsse daher der Fokus eher auf die psychische Belastung der Jugendlichen gelegt werden. „Wir brauchen mehr Schulpsychologen und Sozialarbeiter, die sich um die Probleme gerade der Jüngeren kümmern.“ Denn nach dem Lockdown hätten viele Lehrer den Stoff „durchgepaukt und dann Klausuren schreiben lassen“. Das Schulministerium hätte die Lehrpläne an die Situation anpassen sollen.

Bittere Zwischenbilanz von Eltern

"Manche Schulen bieten ihren Schülern nichts zum Schließen der Wissenslücken, andere machen rudimentäre Angebote. Richtige, flächendeckende Konzepte zum Aufholen sind leider nicht in Sicht", sagte Ralf Radke, Vorsitzender der Landeselternschaft der integrierten Schulen (LEiS NRW), dieser Redaktion.

Bildungsforscher für zielgenaue Hilfe

Der Bildungsforscher Prof. Olaf Köller berät die Schulministerien der Länder und plädiert in der Zeitschrift „Schul-Verwaltung NRW“ dafür, die Gelder des Aufholprogramms nicht nach dem „Gießkannenprinzip“ zu verteilen, sondern gezielt für die „wirklich Betroffenen“ einzusetzen.

Erfolgreiche Maßnahmen aus dem Aufholprogramm sollten auf Dauer weitergeführt werden, so Köller. „Schon vor der Pandemie hatten wir rund ein Viertel der Schülerinnen und Schüler, die am Ende der Grundschule und am Ende der Sekundarstufe I geringe Kompetenzstände in den Kernfächern erreicht haben.“ Nur mit gezielter Förderung könne erreicht werden, „dass nicht jedes Jahr weit über 100.000 Jugendliche die Sekundarstufe I verlassen, ohne über die für eine erfolgreiche berufliche Ausbildung notwenigen Kompetenzen zu verfügen.“