Gelsenkirchen. Ausgezeichnet: Mitarbeiterinnen der Gelsenkirchener Ehrenamtsagentur begeistern Schüler fürs Ehrenamt. Denn da lernen sie mehr als sie denken.

Jede, jeder dritte in Deutschland engagiert sich ehrenamtlich. Aber kaum jemand, der ganztags Unterricht hat und mitten in der Pubertät steckt. Beate Rafalski, Clara Meyer zu Altenschildesche und Karina Wrona finden das schade. „Andere glücklich zu machen, macht selbst glücklich. Und stark“, glauben sie. Für ihr Schüler-Ehrenamt-Schnupper-Projekt mit dem schönen Namen „Heldenpass“ wurde das Trio von der Ehrenamtsagentur Gelsenkirchen jetzt mit dem Talentaward des Initiativkreises Ruhr ausgezeichnet.

Erfunden hat den „Heldenpass“ 2017 Karina Wrona. Der Zivildienst war da schon abgeschafft, die Schulzeit an Gymnasien noch auf acht Jahre verkürzt. Jungen Menschen fehlten Zeit und Berührungspunkte für sozialen Einsatz, erinnert sich Wrona: „Viele blieben in ihrer Blase gefangen, wussten nichts über das Leben in ihrer Stadt. Und viele Arbeitgeber klagten, Auszubildenden mangele es oft an Empathie.“ „Ein Ehrenamt schärft den Blick für Realitäten und macht sensibel“, sagt Beate Rafalski, die Projektverantwortliche.

Der erste Heldenpass ging an 163 Neuntklässler in drei Schulen

Wrona machte sich auf die Suche nach Engagement-Möglichkeiten für 15-, 16-Jährige. Keine komplexe Verpflichtung sollte es sein, lieber ein paar Stunden nur, ein halber Tag vielleicht. 44 Schnupper-Angebote enthielt das erste Heft, das die Frauen „Heldenpass“ tauften. Sie verteilten es an 163 Neuntklässler in drei Gelsenkirchener Schulen und versprachen: Wer eines der Angebote ausprobiert, bekommt einen Stempel – und bei zehn Stempeln das „große Ehrenamtszertifikat“.

Jeff Nichulski ist als Heldenpass-Botschafter Ansprechpartner für Interessierte bei Infoveranstaltungen in Schulen. Er arbeitet schon an seinem zweiten „großen Ehrenamtszertifikat“.
Jeff Nichulski ist als Heldenpass-Botschafter Ansprechpartner für Interessierte bei Infoveranstaltungen in Schulen. Er arbeitet schon an seinem zweiten „großen Ehrenamtszertifikat“. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Jeff Nichulski arbeitet gerade an seinem zweiten. Er ist jetzt 17 und Heldenpass-„Botschafter“. Den ersten Pass holte er sich, da ging er noch zur Hauptschule, und weil er dachte: „Ehrenamt macht sich immer gut im Lebenslauf, hilft vielleicht bei der Bewerbung.“ Schnell fand er heraus: „Alten- und Kinderheim sind nichts für mich.“ Aber der Biomassepark! Oder die Bücherbörse! Und der Weltladen im alten Turm, dessen Erlöse an die Kinder in den Slums von Mumbai gehen!

Er redete nicht gern,jetzt ist er Pressesprecher

Er habe viel gelernt, sagt Jeff, über die Not in der Welt, über seine Stadt, über sich selbst. Sogar wohin es beruflich mal gehen soll (zum Zoll). Als sie Jeff kennenlernte, erzählt Projektbetreuerin Clara Meyer zu Altenschildesche, sei er „ein sehr ruhiger Typ“ gewesen, „einer der eher anpackt als redet.“ Heute ist er Pressesprecher des städtischen Jugendrats, engagiert sich politisch vor Ort.

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Im aktuellen „Heldenpass“ finden sich Angebote für „Tatkräftige“ wie ihn, aber auch solche für „Orga-Talente“, „Sportfans“, „Entertainer“, „Grüne Daumen“ und „Offene Ohren“. Die Angebotspalette ist entsprechend breit: Wer mag, kann etwa Hausaufgaben betreuen oder kranke Sittiche; im Kinderkarneval oder beim Martinsumzug helfen, bei Feuerwehr oder Tafel; die „Lebenshilfe“ sucht Schüler, die mit Menschen mit Behinderung schwimmen oder kochen; die Caritas welche, die mit Senioren Filme gucken und das Amalie-Sieveking-Haus solche, die Bewohnern vorlesen. Das Tierheim freut sich über Unterstützung beim Sortieren der Futterspenden, das Generationennetzwerk über Junge, die Alte in Sachen Technik schulen und der RC Buer über Youtuber mit BMX-Erfahrung.

Die Sache am Laufen zu halten: „ein filigranes Kunstwerk“

Ein Schuljahr lang ist Zeit, auszuprobieren. Dass dabei Spannendes außerhalb der eigenen Wohlfühlzone entdeckt wird, ein neues Talent womöglich, aus dem sogar ein Beruf werden können – ist gar nicht so selten. Eine Real- und zwei Gesamtschulen sowie zwei Gymnasien sind Kooperationspartner des vom Land bereits prämierten und geförderten Projekts. „Fremdeinsteiger“ sind gerngesehen, eigene Ideen ebenfalls. „Nach der ersten Begeisterung“, sagt Clara Meyer zu Altenschildesche, folge oft „eine schwierige Phase“. Doch wer drei Heldenpass-Angebote „gemacht“ habe, erledige oft alle anderen auch. Schlüssel zum Erfolg sei, „dass wir die Schüler begleiten“.

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Neben jedem Ehrenamt im Heft finden sich die Kontaktdaten der Ansprechperson vor Ort. Anrufen sollen die Schüler selbst – für manchen eine allein kaum zu überwindende Hürde, sagt Rafalski, „und wenn sich dann noch der AB meldet….“. Die „Sache über ein Jahr am Laufen zu halten“ nennt sie ein „filigranes Kunstwerk“.

Es gibt schon Nachahmer in anderen Städten

Doch es gelingt, nach einer Corona-Zwangspause, jetzt schon in der dritten Auflage. Fast noch schöner als die Auszeichnung der Talentmetropole ist für die Preisträgerinnen: Zu wissen, dass Königswinter, Geldern und Gütersloh ihr Konzept adaptiert haben, dass es sogar Interesse dafür gibt in Berlin und Südtirol. „ Das bestärkt uns in dem Bauchgefühl“, sagt Karina Wrona, „dass der Heldenpass eine großartige Idee ist“. Irgendwann, hoffen die drei, sollte er jeder neunten Klasse angeboten werden.

Denn kurze Erlebnisse könnten Nachhaltiges auslösen, weiß Clara Meyer zu Altenschildesche. Sie denkt dabei an jenen Jungen, der ganz allein in der Aula stand, als sie die Heldenpässe verteilte. „So wenig integriert und so schüchtern“, sagt sie, „dass ich ihn sofort ansprach.“ Zwei Stunden in einem Pflegeheim konnte er sich vorstellen, fand sie heraus. Und vermittelte das. „Der Junge ging hin, blieb, entbrannte förmlich für sein Ehrenamt.“ Und im Heim liebten sie ihn dafür: Extra für den Schüler wurde der „heilige“ Bingo-Nachmittag auf einen anderen Wochentag gelegt – weil sich sein Stundenplan änderte.

>>> Die vier weiteren Preisträger

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© Marc Albers

Talente gründen Talente-Netzwerk: Die Studentin Yazgi Yilmaz gründete 2017 mit anderen ehemals geförderten Talenten und deren Talentscouts an der Ruhruni Bochum das „Talente-Netzwerktreffen“ . Die Initiative (Bild links) ist inzwischen Impulsgeber für die Talentförderung auch an anderen Hochschulen in NRW.

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Sprache als Schlüssel zur Integration: Als Leiterin der Grundschule Nordviertel in Essen hat Betül Durmaz (Bild rechts) ein Sprachbildungskonzept für „Seiteneinsteiger“ entwickelt, für die neuen Flüchtlingskinder an ihrer Schule, von denen viele weder Deutsch noch Schreiben und Lesen je gelernt hatten. Sie sollten so gefördert werden, dass sie schnell am Unterricht aller teilnehmen konnten: etwa durch Extrastunden oder kombinierte Sport-Sprache-Kurse..

 
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Begeisterung wecken für Informatik:Ruzbeh Nagafi (Bild links) ist Erfinder und Motor der „Digitalfabrik“ in Bochum, die revierweit AGs anbietet zu Themen wie Cyber-Sicherheit und Medienkompetenz. Er animiert erfahrene, bereits berufstätige Menschen bei den Veranstaltungen mitzumachen und so ihr Wissen an Schüler und Studierende weiterzugeben – praxisnah und alltagstauglich. Er sagt, das sei sein Beitrag gegen den Fachkräftemangel in der IT.

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© Marc Albers

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>>>>INFO: Die Auszeichnung:

Zum achten Mal hat die Stiftung Talent-Metropole Ruhr gestern Abend (11. November) den Talentaward Ruhr vergeben, ihren Preis für Talentförderer.

Da im vergangenen Jahr coronabedingt keine Preisverleihung stattfand, wurden die Gewinner von 2020 geehrt – und nur ein Sonderpreis für 2021 vergeben.