Mülheim. . Ulrike Nixdorff leitet die Mülheimer Hauptschule im Hexbachtal. Seit 2001 und mit großem Erfolg. Für ihr ungewöhnliches Engagement zeichnete der Initiativkreis Ruhr die 57-Jährige jetzt als „Talentförderin“ aus. Und ihre Schüler finden sie auch nicht mehr „ätzend“. Obwohl sie ihnen die Jogginghosen verboten hat.

Kaugummi und Kappen sind verboten, Handys auch. Mädchen werden nach Hause geschickt, wenn ihr Rock zu kurz oder der Auschnitt zu tief ist. Und in Jogginghose darf hier schon mal gar keiner herumlaufen – hier, an der Schule im Hexbachtal. Die bald letzte Hauptschule Mülheims ist eine ungewöhnliche. Keine Graffiti an den Wänden, kein Müll auf dem Schulhof, keine kaputten Möbel, keine Kloppereien. Stattdessen: Blumen auf den Fensterbänken, Kunstwerke im Treppenhaus, Schüler, die dem Besucher zuvorkommend den Weg weisen – und von denen überraschend viele nach dem Abschluss einen Ausbildungsplatz finden oder Abi machen. Wo, bitte, sind wir hier? An einer Hauptschule oder in der Kaderschmiede? Genau! Hier in Dümpten werden Talente vorbildlich gefördert, findet der Initiativkreis und zeichnete Schulleiterin Ulrike Nixdorff dafür aus..

Was der 57-Jährigen fast ein wenig peinlich zu sein scheint, so oft erwähnt sie ihr „fantastisches Kollegium“, die „geniale Stellvertreterin“, ihre „tollen Schüler“. Doch fing im Grunde irgendwie schon alles mit ihr an. 2001 kam die gebürtige Essenerin als Schulleiterin nach Mülheim. Und war entsetzt. Das Kollegium: engagiert, aber unglücklich; die Schüler: frustriert und respektlos; die Eltern: uninteressiert; das Gebäude: heruntergekommen; nur zehn Prozent der Abgänger des letzten Schuljahrs hatten einen Ausbildungsplatz gefunden; fürs neue gab es 16 Anmeldungen – diese Hauptschule kämpfte ums Überleben.

„Seid Sie hier sind,mucken plötzlich alle auf“

Doch Ulrike Nixdorff ist keine, die jammert. Die dreifache Mutter begann aufzuräumen. Im Haus, in den Köpfen. Entmüllte die komplette Schule, sprach mit Schülern und Eltern, fragte die Kollegen: Was stört Euch besonders? Es folgten: klare Kleider- und Verhaltensregeln – und ein sehr schweres Jahr. „Seit Sie hier sind, mucken plötzlich alle auf“, warf ihr eine Schülerin damals wütend an den Kopf. Nixdorff nahm es als Kompliment. Schön zu hören, dass die Lehrer einheitlich agierten...

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Das neue „Gesetz der Schule“ aber beinhaltete weit mehr als Verbote. Den Lehrern etwa wurden regelmäßige Fortbildungen verordnet: Unterricht muss interessant sein, um zu fesseln. Und auch sie wurden zur Pünktlichkeit verdonnert: das gute Beispiel zählt. Ordnungsmaßnahmen wurden strikt durchgezogen, Klassenkonferenzen optimiert und Fördersprechtage eingeführt. Dreimal im Jahr nehmen sich mindestens zwei Lehrer mindestens eine halbe Stunde Zeit für jeden einzelnen (der 501) Schüler und seine Eltern. Grundlage des Gesprächs sind zwei konkrete Ziele, die der Schüler vorab formuliert: eines für den schulischen Bereich (Mathenote bis Juli auf Drei verbessern!), eines fürs Sozialverhalten (im nächsten Halbjahr kein einziges Mal mehr zu spät kommen!). Inzwischen erscheinen 90 Prozent der Eltern mit Sohn oder Tochter zu diesen Fördersprechtagen! Ab der fünften Klasse gibt es außerdem für alle Schüler Berufsorientierungs- und beratungsgespräche, zwei Sozialarbeiter sind ständig vor Ort. „Nach und nach bekamen wir so Grund in die Schule“, erklärt Ulrike Nixdorff. Und mit dem „Grund“ kam die gute Stimmung. Und 2004 die Inklusion.

Dass sich behinderte wie nicht-behinderte Schüler an dieser außergewöhnlichen Hauptschule heute wohl fühlen, dass inzwischen 40 bis 60 Prozent von ihnen nach der zehnten Klasse eine Berufsausbildung beginnen, das liegt vor allem aber an einem: dass sie hier ernst und angenommen werden; dass hier viel gelobt wird, und die Lehrer auf Stärken statt Schwächen blickt. „Wir sind wer, und wir können was!“, sagt Ulrike Nixdorff gern. Und sie sagt es oft.

„Wir sind wer,und wir können was“

Für diese Erkenntnis übrigens musste sie selbst hart kämpfen: Als sie, das Arbeiterkind aus dem Essener Norden, Mitte der 60er von ihrer Katernberger Volksschule an die feine Luisenschule, die „Erste Essener Höhere Töchterschule“ wechselte, da ließen sie die anderen Mädchen deutlich spüren: „Du gehörst nicht hier hin, aufs Gymnasium!“ Die Väter der Klassenkameradinnen seien reich gewesen. „Sie fuhren in dicken Autos vor“, erinnert sich die 57-Jährige. Ihrer fuhr – Taxi: neben seinem eigentlichen Job als Eisenwerke-Former.

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Doch die Eltern glaubten an ihr Kind, auch als es die ersten Klausuren versiebte („Deutsch: Fünf, Englisch: Sechs“), organisierten Nachhilfe, stritten mit ungerechten Lehrern, sagten immer wieder: Bildung ist wichtig. Und: Du schaffst das! In der Oberstufe wusste das Arbeiterkind: Ich muss hinter den anderen nicht zurückstecken.

Dass sie Lehrerin werden wollte, war Ulrike Nixdorff sehr viel früher klar: am Ende ihres allerersten Schultags! Dass sie es tatsächlich wurde, hat sie nie bereut. Auch nicht, dass sie an der Hauptschule blieb. „Denn hier gehöre ich hin“, sagt sie heute. Stolz.

Die weiteren Preisträger des Talent Awards Ruhr 2014 

Hans-Jürgen Badziong

Lernen kann man nicht nur in der Schule, manchmal muss dafür den Klassenraum auch verlassen – glaubt Dr. Hans-Jürgen Badziong, Lehrer am Berufskolleg Gladbeck und großer Fan klassischer Musik. In diesem Jahr ließ er Schüler zum dritten Mal das „Foyerkonzert“ organisieren. Es galt unter anderem Sponsoren zu gewinnen, Versicherungsfragen zu klären, Künstler zu betreuen, Gäste zu bewirten, Bühnentechnik zu installieren. Mancher Schüler entdeckt dabei Fähigkeiten, die er nie bei sich vermutet hätte, sagt Badziong, der seit 34 Jahren Bio, Mathe und Deutsch unterrichtet.

Anna Katharina Jacob

Für talentierte Migranten, die in Deutschland keinen Arbeitsplatz finden, engagiert sich Dr. Anna Katharina Jacob als Leiterin des Projekts „Pro Salamander“ an der Uni Duisburg-Essen. Ziel der Nachqualifizierung ist es, den zugewanderten Akademikern, deren Leistungsnachweise von deutschen Arbeitgebern oder Universitäten oft nicht anerkannt werden, bessere Arbeitsmarktchancen zu bieten. Die ausgewählten Bewerber werden zur Aufnahme eines erneuten Studiums ermuntert, finanziell unterstützt oder/und bei der Suche nach einem adäquaten Arbeitsplatz begleitet.

Yassine Zerari

Als Mitarbeiter der Niederrheinischen Industrie- und Handelskammer hilft Yassine Zerari (33) im Rahmen des „Duisburger Schulmodells“ schwächeren Schülern bei der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz – von der Formulierung des Schreibens bis zum Einzelcoaching fürs Vorstellungsgespräch. Zudem organisiert er ein „Azubi-Speed-Dating“ und „Probe-Bewerbungen“ bei Personalverantwortlichen. 200 Jugendliche, die ohne ihn kaum eine Chance gehabt hätten, habe der Sohn algerischer Einwanderer in den letzten vier Jahren an Betrieb vermittelt, lobt der Initiativkreis.