Dernau. Oben gedeihen die Trauben, unten im Tal ist alles zerstört: Winzer Ludwig Kreuzberg bangt nach der Flut um die Ernte. Bald sind die Trauben reif.

Ludwig Kreuzberg sitzt in der Sonne und schaut auf die Weinberge. Die dunkelroten Beeren sind bald reif, noch zweieinhalb Wochen, dann beginnt die Ernte. „In diesem Sommer ist es etwas kühler“, sagt der Winzer, „das kommt uns sehr entgegen.“ Hinter ihm fließt die Ahr wieder ruhig durch den kleinen Ort. Drumherum ist alles verwüstet. „Hier“, sagt Kreuzberg und zeigt auf die Umgebung aus Schutt und Dreck, „war ein großer Veranstaltungsplatz.“ Die Steine, auf denen er sitzt, waren einmal eine Bühne. Es gab eine Theke für den Weinausschank, links und rechts eine Pergola mit prächtigen Weinreben. Der 55-Jährige denkt an das traditionelle Winzerfest im Herbst: „Es war wunderschön.“

Doch bis in Dernau an der Ahr, eingeschlossen von riesigen Weinbergen, wieder gefeiert werden kann, wird es wohl noch einige Jahre dauern. Die Flutkatastrophe vor gut sechs Wochen hat das gesamte Dorf zerstört. Die Häuser sind verlassen, Scheiben zerschlagen, nirgendwo brennt ein Licht. „Wenn man am Abend durch die Straßen läuft, fühlt man sich wie in einer Geisterstadt“, sagt Kreuzberg. Während oben auf dem Berg der Spätburgunder gedeiht, fehlt es den Winzern im Tal nahezu an allem.

Von dem Veranstaltungsplatz in Dernau an der Ahr ist nach der Flut nur noch wenig zu erkennen.
Von dem Veranstaltungsplatz in Dernau an der Ahr ist nach der Flut nur noch wenig zu erkennen. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

„Für die 50 Jahre alte Presse gibt es keine Ersatzteile mehr“, bedauert Ludwig Kreuzberg, und auch die Weinfässer aus Holz seien nach der Flut nicht mehr zu gebrauchen. Einen Ort, um den Wein in die Flasche zu bringen, hat der Winzer bereits gefunden: eine Produktionshalle im etwa 20 Fahrminuten entfernten Meckenheim. Mit dem verunreinigten Wasser könnten sie im Ahrtal ohnehin keinen Wein herstellen. Was aber nützt eine leere Halle, wenn die Geräte zur Weinlese, Verarbeitung und zum Abfüllen fehlen?

Um halb eins in der Nacht brach der Kontakt ab

Am Tag, als die Flut alles mitriss, alles zerstörte, waren Ludwig Kreuzberg und seine Frau Sandra mit Freunden im Urlaub in Österreich. Nur seine 23-jährige Tochter Lea war mit ihrem Freund und zwei Saisonkräften zuhause. „Es steigt“, „Es steigt“, „Es steigt“ waren die Nachrichten, die der Vater am Abend von seiner Tochter erhielt. Per Telefon gab er ihr Anweisungen, Sandsäcke zu besorgen, die Autos den Berg hinauf in Sicherheit zu bringen, den teuren Wein aus dem Keller zu retten und irgendwann: alles stehen und liegen zu lassen und sich im zweiten Stockwerk in Sicherheit zu bringen. Um halb eins in der Nacht brach der Kontakt schließlich ab.

Ludwig Kreuzberg schaut aus seinem Fenster im ersten Stock: Bis zur Mitte der ersten Etage stand das Wasser bei der Flutkatastrophe im Ahrtal.
Ludwig Kreuzberg schaut aus seinem Fenster im ersten Stock: Bis zur Mitte der ersten Etage stand das Wasser bei der Flutkatastrophe im Ahrtal. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

„Wir dachten anfangs, das ist ein ganz normales Hochwasser“, sagt Ludwig Kreuzberg, der sich und seinem Freund Peter einen Schnaps bestellte. Sie befürchteten: „Das wird ganz schön teuer.“ Sofort am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg nach Hause. „Wir haben immer wieder angehalten“, sagt er, „die Nachrichten verfolgt, Videos geschaut.“ Irgendwann am Vormittag kam dann der erleichternde Anruf eines Nachbarn: „Vier Menschen stehen auf deinem Dach. Der Hubschrauber ist gleich da!“

20 Menschen verloren in den Fluten ihr Leben

Mittlerweile haben die Bagger im Ahrtal das Blaulicht abgelöst, überall wird gesägt, gehämmert, geschippt. Und mittendrin im Chaos riecht es nach Waffeln, die freiwilligen Helfer sind noch immer da. „Diese Hilfe ist unglaublich“, sagt Kreuzberg, der nicht damit gerechnet hatte, dass auch Wochen nach der Katastrophe „beinah zu viele Helfer“ im Ort sind. „Ohne die vielen Menschen hätten wir das nicht geschafft“, sagt der 55-Jährige und erinnert an den halben Meter Schlamm in seinem Keller. „Wir haben eine Menschenkette aus 25, 30 Leuten gebildet.“ Eimer um Eimer schaufelten sie das Weinlager frei.

20 Menschen haben in dem 1700 Einwohner großen Örtchen ihr Leben verloren. Die fehlenden Buchstaben am Haus, das „u“ und das zweite „e“ in „Kreuzberg“, zeigen, bis wohin das Wasser stand: bis zur Mitte der ersten Etage. „Meine Frau und ich haben nichts mehr“, sagt Ludwig Kreuzberg. Nur ein paar Sachen seiner beiden Töchter konnten aus dem zweiten Stock gerettet werden. Das Restaurant von seinem Freund Peter wurde bereits abgerissen. Ob das Zuhause der Familie, der Weinkeller, die Straußwirtschaft (ein saisonaler Ausschank), die Pension ebenfalls abgerissen werden müssen? „Das wissen wir noch nicht“, sagt der Winzer, der den Betrieb in der dritten Generation führt.

In zweieinhalb Woche sind die Trauben reif.
In zweieinhalb Woche sind die Trauben reif. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Die Zeit läuft davon

Es sind die vielen Helfer, die die Anwohner antreiben. „Ich kann ja jetzt nicht einfach aufgeben“, sagt Ludwig Kreuzberg. Aber: „Wenn wir die Hilfe nicht hätten, dann wären die ganzen Trauben in diesem Jahr kaputt.“ Winzer aus ganz Deutschland unterstützen die Weinbauer im Ahrtal. Sie haben nach der Flut geholfen, die Reben von Blättern zu befreien, damit Luft durchziehen kann, die Beeren nicht schimmeln. Erst vor zwei Tagen hat Ludwig Kreuzberg drei Tanks von einem Kollegen aus Aschaffenburg erhalten.

„Noch habe ich nicht alles“, sagt Kreuzberg, dem langsam aber sicher die Zeit davonläuft. Ein Gärbottich, eine Weinbergsraupe und ein Pritschenwagen fehlten noch. Doch den Kopf in den Sand stecken, das kommt für den 55-Jährigen nicht infrage. „Nützt ja nichts.“ Immer wieder hat er sich in den vergangenen Wochen gefragt: Schaffen wir das? Oder schaffen wir das nicht? Immerhin hängt seine Existenz an dem Wein. Mit dem Jahrgang 2021 verdiene er das Geld für die kommenden Jahre. „Aber“, sagt Ludwig Kreuzberg nach Wochen der Verzweiflung nun mit einem Lächeln im Gesicht, „ich glaube, wir schaffen es.“