Ruhrgebiet. Der Regen ist vorbei in der Nacht, da kommt das Wasser erst richtig: die Ruhr, so breit. “So was gab es noch nie“, sagen die Menschen.

Um Mitternacht haben die Bickerts noch vor der Tür gestanden und waren froh, dass der Regen vorbei war. "Davongekommen", darüber unterhielten sie sich, "wir sind vom Schlimmsten verschont geblieben". Dann gehen sie schlafen. Dann schellt die Feuerwehr. Gegen halb sieben muss das gewesen sein: Sofort raus.

Jetzt sitzen Ralf und Dorette Bickert vor einem Notquartier in Bochum-Dahlhausen und sind "BO-061", wie der neue DRK-Ausweis besagt, den sie um den Hals tragen. Dorette Bickert zeigt Fotos auf dem Handy: die abgesackte Straße, Fontänen schießen aus Gullys.

"Ich weiß, dass ich alle meine Möbel wegschmeißen kann"

"Unser Badezimmer ist im Keller, gerade erst neu, die Waschmaschine, der Trockner", sagt sie. "Wir hoffen, dass wir einigermaßen verschont bleiben." Eine andere Frau sagt: "Ich weiß, dass ich alle meine Möbel wegschmeißen kann." Ihre Jeans ist nass bis fast am Hosenbund.

Doch noch fährt die Feuerwehr durch Bochum-Dahlhausen, Sirenen warnen, Lautsprecher-Durchsagen auch: dass die Menschen, die noch zuhaue sind, sich eventuell auf eine Evakuierung vorbereiten sollen. Wertsachen nach oben schaffen. Geräte vom Strom nehmen. "Halten Sie sich vom Wasser fern!"

In Hattingen hat sich der Pegel innerhalb von zwei Tagen vervierfacht

Die Lage ist dramatisch im Ruhrgebiet am Donnerstag. Unter einem blauen Himmel, der sozusagen kein Wässerchen trüben kann, dehnt sich die Ruhr aus wie vielleicht nie seit der Möhne-Katastrophe von 1943. Menschen stehen auf den großen Brücken, gucken, fotografieren und sagen Sätze wie: "Ach du Scheiße!" In Hattingen hat sich der Pegel innerhalb von zwei Tagen vervierfacht, auf den Stand von 7,01 Metern - der Rekord für Juli lag bei 6,18 Metern.

Der Fluss ist nicht mehr derselbe, von Dortmund mit Duisburg macht er mehr als Schwierigkeiten, macht er Sorgen, bringt Menschen in Not. In Herdecke und Witten, in Hattingen und Bochum, in Essen und Mülheim.

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Gerettete Frau aus Witten: Das Wasser stieg höher und höher

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Unwetter in Hattingen: Ruhr bei 7 Metern, Menschen evakuiert

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Feuerwehr holt Menschen mit Booten und Löschfahrzeugen aus Gebäuden

Überall müssen die Feuerwehren Gebäude räumen. Denn ungezählte Keller stehen unter Wasser, Erdgeschosse auch, Bäume sind umgestürzt, Brücken beschädigt. Holzbruch in der Natur. Wasserstau in Senken.

Wegen der Wassermassen muss die Feuerwehr beispielsweise eine Senioren-Wohnanlage in Hattingen räumen. "Wir haben die Menschen zum Teil mit Booten aus dem Gebäude geholt", sagt Feuerwehr-Sprecher Jens Herkströter. An einer anderen Straße nahe der Ruhr gibt sie Häuser auf, weil die Pumpen die ganzen Wassermassen einfach nicht mehr schaffen.

Der Deilbach in Kupferdreh wird zum reißenden Strom

"Kompletter Betrieb unter Wasser", so beschreibt Sabrina Leue die Situation in der Gastronomie auf Burg Kemnade. Wegen des Stromausfalls könne man noch nicht einmal Reservierungen absagen. Tante und Onkel, die das Lokal betreiben, könnten es "jetzt wahrscheinlich nach über 30 Jahren an den Nagel hängen".

Und auch in Essen läuft die Ruhr über, kommt Wasser aus dem Fluss herein, kommt Wasser hoch aus der Kanalisation. Besonders betroffen: Kupferdreh, wo der an sich harmlose Deilbach plötzlich alles mitreißt. Auch in Steele und in Kettwig müssen Häuser geräumt werden.

Tiefgaragen werden geräumt, kritische Blicke fallen auf das Wasserkraftwerk

In Mülheim denkt man im Rathaus morgens noch, man sei "mit einem blauen Auge davongekommen", so Stadtsprecher Volker Wiebels. Doch dann kippt die Situation, droht das Wasser in die Innenstadt zu laufen. Tiefgaragen müssen geräumt werden, die Sparkasse räumt die Hauptstelle, kritische Blicke gelten dem Wasserkraftwerk. "Wenn es ausfällt und sich ein Rückstau bildet, haben wir ein massives Problem", sagt Wiebels.

Zurück nach Bochum-Dahlhausen. Menschen stehen an der Wasserkante, sind sich einig. "So etwas gab es noch nie", sagt eine Frau, die nach eigener Aussage "über 50 Jahre hier lebt". Das sagt auch Frank Schulz-Wiese, Betreiber von La Bodega: "Knapp unter der Fensterbank war bisher das höchste." Jetzt ist der Wasserspiegel auf halber Fensterhöhe.

"Jetzt kann ich das Erdgeschoss wegschmeißen"

Schulz-Wiese ist hart getroffen, hatte seine Gastwirtschaft nach den Corona-Sperrungen gerade erst wieder eröffnen können. Genauso geht es seinem Nachbarn Ralf Schockmann, dessen ,Ruhrpiraten' Bootsausflüge und Kanu-Touren organisieren. Auch sein Betrieb lief gerade erst wieder an. "Ich habe das Haus gekauft und renoviert. Jetzt kann ich das Erdgeschoss wegschmeißen."

Wo der Ruhrpegel noch hin will: Man weiß es nicht. Der Lautsprecherwagen der Feuerwehr ist schon wieder zu hören. Jenseits der Bahnlinie, schon in der zweiten Reihe, verschanzen Menschen Garageneinfahrten und Hauseingänge mit blauen Sandsäcken. Nasse Sessel, Fahrräder und Regale stehen neben Eingangstüren.

Menschen schütten Wasser eimerweise in Gully, doch der schluckt nichts mehr

Frauen und Männer tragen das Wasser eimerweise heraus, schütten es in den Gully in der Mitte der Straße, doch der Gully übergibt sich: nimmt keinen Tropfen mehr an, spült selbst Wasser in die Straße. Noch ist es ein Rinnsal in der zweiten Reihe.

Aber, muss man auch sagen, manche Menschen haben ihren Humor noch nicht verloren. Die Angelfreunde vom ASV Ruhr haben gemacht, was sie machen konnten, als das Vereinsheim voll lief. "Gas, Strom, alles abgestellt", sagt der frühere Kassierer Gerhard Röddinger in sein Mobiltelefon: "Das Angelzeug kann ruhig nass werden."

In dem Strom namens Ruhr schwimmt ein . . . Reh? Jemand will einen Hasen gesehen haben, der vorbei trieb, er saß wohl auf einer Art Tablett oder Tischfläche. Dann kommen Gartenstühle. Irgendwo vom Oberlauf. Eine Bierbank. "Dieses Hochwasser wühlt mich so auf, ich habe mich heute morgen schon übergeben", sagt Andrea Wreczinsky. Sie weint fast.