Dortmund. Dirk Planert ließ sein Leben als Journalist in Dortmund hinter sich, um in Bosnien Geflüchteten zu helfen – und schulte zum Rettungssanitäter um.
Mitten vor die Füße. Auf einer verdreckten und stinkenden Müllkippe schmeißen bewaffnete Polizisten einen jungen Geflüchteten direkt vor Dirk Planert in den Staub. Der junge Mann krümmt sich vor Schmerzen, leidet offensichtlich unter starken Blinddarm-Beschwerden.
Es ist irgendein Freitagnachmittag 2019 in der bosnischen Stadt Bihać, im Elend an der EU-Außengrenze. Es ist dieser eine Moment, der Dirk Planert zum Handeln zwingt. Der Moment, der den 53-Jährigen sein Leben als Journalist in Deutschland aufgeben lässt, um Geflüchteten zu helfen . Weil die Polizei nichts tut, auch nicht auf Aufforderung.
Geflüchtete in Bosnien: „Menschen werden weggeworfen“
„Da werden Menschen weggeworfen.“ Dirk Planert ist immer noch fassungslos, seine Stimme klingt rau übers Telefon als er von diesem Wendepunkt erzählt. Gehen oder Bleiben? Weggucken oder Handeln? Heimfahren oder Helfen? Planert bleibt, es werden eineinhalb Jahre. Eigentlich wollte der damals freie Journalist nur eine Fotoausstellung mit Kriegsbildern in Bihać eröffnen.
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Er kennt die gebirgige Gegend nahe der kroatischen Grenze, erzählt, wie er sich „als junger Bengel“ in den Neunzigern einem Hilfstransport angeschlossen habe, um im Bosnienkrieg humanitäre Hilfe zu leisten. Und nun sieht er vor einem Flüchtlingscamp in der Stadt eher zufällig, wie bewaffnete Polizisten Menschen in Busse bugsieren. Bei Planert geht ein innerer Alarm los. „Wenn so etwas im ehemaligen Jugoslawien passiert, werde ich unruhig.“
Zustände in Bosnien: Flüchtlingscamp auf einer Müllhalde
Er fährt hinterher. Auf der ehemaligen Mülldeponie werden die Flüchtlinge wieder aus dem Wagen gelassen, auch der junge Mann mit den schlimmen Schmerzen. „Keiner wusste so recht, was hier passiert.“ Während die Polizisten wieder wegfahren, harrt Planert bei den Menschen aus. Auf dem ungastlichen Areal hat sich ein illegales Lager gebildet, fern von jeden internationalen Standards .
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Weshalb auch die großen Hilfsorganisationen nicht eingeschritten wären, wie Dirk Planert sagt. „Das hat mich reaktiviert, ich habe mit der gleichen Energie gearbeitet – wie damals im Krieg.“ Er spricht eindringlich und direkt, sehr direkt. „Dass Menschen 2019 einfach so weggeschmissen werden…“ Er setzt den Satz gedanklich weiter fort: Das hätte früher noch für einen großen Aufschrei gesorgt.
Weiter helfen: Die Organisation SOS Bihać gegründet
In den ersten Tagen ist Planert mit verwahrlosten und verletzten Geflüchteten ganz auf sich alleine gestellt. Telefoniert mit einem befreundeten Internisten, wie er die Wunden selbst versorgen kann. Parallel sucht er Kontakt zu Medien, um die Missstände bekannt zu machen. Nach gut 14 Tagen: die erste freiwillige Ärztin aus Österreich. Das Team wächst, eine Ambulanz entsteht. Nach Monaten hat Planert das erreicht, wofür er geblieben ist: die Missstände in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, mit Druck von EU-Politikern das Lager aufgelöst, die Menschen aufs Nötigste versorgt und anderweitig untergebracht.
Mit seinem Mitstreiter Zlatan Kovačević gründet Planert die Organisation SOS Bihać, die noch immer Geflüchteten und Einwohnern an der Grenze Bosniens hilft. Seit Beginn der Corona-Pandemie ist Dirk Planert wieder zurück in Deutschland, wo er als Rettungssanitäter arbeiten wird. Die Ausbildung hat er vor Kurzem bestanden. „Ich habe zwei Töchter und Enkelkinder“, begründet der 53-Jährige seine Entscheidung zur Rückkehr. „Es war an der Zeit.“
Auf in die EU: Geflüchtete wollen aus Bosnien weiter nach Norden
„Ich dachte vorher, ich kann das nicht, mit dem Blut“, sagt Planert. „Aber ich habe gemerkt, wie sehr mir die medizinische Arbeit Spaß macht.“ Und wie sehr andere seine Hilfe brauchen. Während der kommenden Urlaube will Planert deshalb wieder zurück nach Bosnien – und dort mit anpacken. „ Jeder Flüchtling, der seinen Fuß auf europäischen Boden setzt , hat das Recht, einen Asylantrag zu stellen“, sagt Planert. Und Recht auf menschenwürdige Behandlung. „Die Polizei hetzt Hunde auf Flüchtlinge. Da passieren schlimmste Menschenrechtsverletzungen.“ Und die EU schaue einfach weg.
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„Die Situation ist vielen Menschen nicht bewusst. Oder egal“, klagt Planert an. Die Politik denke: „Je schlechter es den Menschen geht, desto schneller verschwinden sie .“ Zwar gibt es offizielle Flüchtlingscamps an der Grenze zwischen dem nicht EU-Staat Bosnien und dem EU-Staat Kroatien, aber „die meisten Menschen leben in den Wäldern.“ Keine festen Behausungen, sanitäre Anlagen oder medizinische Versorgung. Schlafen unter Planen im Gebirge.
Syrische Familie: Flucht über Bosnien in die Niederlande
Dort habe er auch Frauen und Kinder getroffen, obwohl es ein Camp für Familien gibt. Doch viele wollen weiter nach Norden: „Ich kriege noch regelmäßig Nachrichten von Menschen, die es geschafft haben.“ In die EU. Etwa nach Paris. Planert erzählt von einer syrischen Familie .
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„Sie wurden verprügelt und saßen im Gefängnis. Sie sind in Kroatien gefoltert worden, anders kannst du es nicht nennen.“ Aber nach 30 Versuchen hätten sie es geschafft , sich in die Niederlande durchzuschlagen – „und sind glücklich“. In einem Flüchtlingsheim . „Ich besuche die Familie regelmäßig. Der Kleine ist jetzt drei. Er hatte seine erste Kinderkrippe in einem Pappkarton.“ Planerts Stimme hellt sich auf, als er von dem Jungen spricht.
Fluchtroute: Durch Wälder voll Wölfen, Bären und Minen
Doch es gibt genug Ereignisse, die für ihn „schwer zu ertragen“ waren. „Ich habe Monate zugesehen, wie Menschen mit ihren kleinen Kindern ins Gebirge aufgebrochen sind, in dem es noch Kriegsminen, Bären und Wölfe gibt. Und da sind die Wölfe wahrscheinlich nicht einmal das Gefährlichste“, sagt Dirk Planert. „ Dass so etwas in der heutigen Welt zugelassen wird, ist mir ein Rätsel .“
Zurück in Deutschland braucht Planert Zeit zum Verarbeiten. „Die ersten Tage sind ein sehr extremes Gefühl. Weil der Eindruck entsteht, dass alle Menschen nicht wissen, wie gut es ihnen geht, rumlaufen wie Zombies.“ Und sich ums Klopapier streiten. Da habe Planert in Bosnien ganz anderes erlebt. Gewalt, Hunger, Elend. Erkrankungen und Dreck. Deswegen legt der frisch ausgebildete Rettungssanitäter seinen Fokus nun aufs Medizinische statt aufs Schreiben. Denn der Journalist hat gemerkt, dass Berichten nicht reicht. Zumindest nicht ihm.
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