Berlin. Tausende Flüchtlinge kommen in die Bundesrepublik, obwohl sie woanders Asyl beantragt haben. Sogar Skandinavien ist ein Durchgangsziel.

Am Morgen legt die Fähre aus Schweden an. An der Kontrollstelle im Seehafen Rostock picken sich die Beamten der Bundespolizei an diesem Donnerstag im November um 7.20 Uhr zwei Frauen und zwei Männer aus dem Iran zur Kontrolle heraus. Eigentlich hätten sie nicht einreisen dürfen; dafür fehlen ihnen Dokumente. Bei ihrer Durchsuchung finden die Polizisten schwedische Asylkarten.

Als sie die Fingerabdrücke über die Eurodac-Datei abgleichen, gibt der Computer vier Treffer an – ein weiterer Beweis dafür, dass sie im Partnerland registriert sind. Im Prinzip müssten sie dort bleiben. Aber die Iraner bitten um Asyl, und so werden sie nicht mit der nächsten Fähre zurückgeschickt, sondern vielmehr in die nächste Erstaufnahmeeinrichtung entlassen.

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Wer an der Grenze um Asyl bittet, wird nicht abgewiesen

„Sekundärmigration“ nennen es die Fachleute. Europäischer Alltag. Zum Stichtag 30. Juni 2020 hielten sich 28.292 Personen in Deutschland auf, bei denen festgestellt wurde, dass ein anderer Mitgliedstaat der EU für die Durchführung ihres Asylverfahrens zuständig ist. Einige Staaten sind bekannt für ihren rüden Umgang mit Flüchtlingen, Ungarn etwa.

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    Aber es kann auch opportun sein, selbst dem weltoffenen Schweden den Rücken zu kehren. Bis Oktober stellte die Bundespolizei 1569 unerlaubte Einreisen aus Skandinavien fest, im Februar und September jeweils fast 300 Menschen. Da die Grenzen im Schengenraum nicht permanent kontrolliert werden, geben diese Zahlen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Einwanderung wieder.

    Beim Innenministerium in Mecklenburg-Vorpommern winkt man ab: Phänomen bekannt. Häufig würden Migranten auf dem Landweg über Dänemark oder unmittelbar auf dem Seeweg aus Schweden kommend bei der Einreise festgestellt, zumal, wenn ihnen unter Umständen die Abschiebung drohe.

    Schweden schiebe abgelehnte Asylbewerber auch in Staaten wie Afghanistan und Irak ab. Ist der Asylantrag abgelehnt und besteht eine Ausreisepflicht , kürzten die Schweden die staatlichen Hilfen.

    Die Tücken des Dubliner Verfahren

    Dann klopfen sie in Deutschland an. „Wenn jemand Asyl beantragt, kann er grundsätzlich an der Grenze nicht zurückgewiesen werden“, erläutert der parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Stephan Mayer (CSU).

    „Leider spielt das Problem der Sekundärmigration in Europa nach wie vor eine erhebliche Rolle“, sagte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg , unserer Redaktion. „Wir brauchen deshalb dringend die auf EU-Ebene verhandelte Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems. Dabei ist besonders wichtig, beschleunigte Asylverfahren direkt an den Außengrenzen durchzuführen und im Zuge dessen abgelehnte Asylantragsteller direkt von dort aus zurückzuführen.“

    Auch CSU-Mann Mayer mahnt, das europäische Dublin-System doch „effektiver und operabler“ zu machen.

    Nach seiner Amtseinführung hatte Innenminister Horst Seehofer (CSU) gefordert, bereits in anderen EU-Staaten registrierte Flüchtlinge auch im nationalen Alleingang an der Grenze zurückzuweisen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) lehnte dies ab und drang auf eine europäische Lösung.

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    In jenem Sommer 2018 verkanteten sich die Unionsparteien dermaßen, dass Seehofer seinen Rücktritt androhte. Letztlich verständigte man sich darauf, mit den EU-Partnern Rücknahmevereinbarungen zu treffen. So wurde damals ein Problem politisch kanalisiert – aber wurde es auch wirklich gelöst?

    Frist verstrichen – Deutschland jetzt in tausenden Fällen zuständig

    Wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) unserer Redaktion mitteilte, wurden im ersten Halbjahr 943 Übernahmeersuchen an Schweden gerichtet, überwiegend für Geflüchtete aus Afghanistan (396), Irak (193) und Somalia (60). Wird ein Asylsuchender nicht binnen sechs Monaten an das Erstaufnahmeland überstellt, geht die Zuständigkeit nach dem Dubliner Verfahren auf Deutschland über.

    Ende Juli war bei 10.932 Personen, die aus Deutschland in einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden sollten, die Überstellungsfrist abgelaufen. Mal ist ein Migrant krank oder nicht reisefähig, mal ein Klageverfahren anhängig. Manche tauchen unter oder bekommen Kirchenasyl. Nur ein Teil der Verzögerungen – 1357 Fälle – ist mit der Corona-Pandemie erklärbar.

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    Bundesrepublik ist eines der Hauptzielländer in der EU

    Schweden stimmte im ersten Halbjahr über 737 Übernahmeersuchen zu. Tatsächlich überstellt wurden nur 104 Asylsuchende, wie das Bundesinnenministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Linken mitteilt. Die Chance, hier bleiben zu dürfen, ist gut.

    Wenn es um die Weiterwanderung innerhalb Europas gehe, klagt CDU-Mann Middelberg, „ist Deutschland eines der Hauptzielländer“. Wenn nichts mehr geht – geht es eben nach Deutschland.

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