Ruhrgebiet. Von heute an gelten für Besuche in Pflegeheimen lockerere Regeln. Die Träger fürchten, das Coronavirus dringe ein, doch das Land hält dagegen.

Wenn Liebe auf Allgemeinverfügung stößt, dann sieht das bei Martina D. so aus: Sie sitzt im Heim bei ihrer 92-jährigen Mutter, hält Abstand, trägt Maske und Handschuhe, und die Mutter, an sich noch ganz verständig, „denkt, das ich krank bin, und fragt jedes Mal, ob es mir besser geht“. Es zerreißt ihr das Herz.

Vom heutigen Mittwoch an sind die Besuchsregelungen in Pflegeheimen deutlich gelockert, und die Frau aus Oberhausen könnte ihre Mutter sogar schon seit ein paar Tagen wieder berühren, in den Arm nehmen – aber nur mit Maske. Kunststück Kuss sozusagen. Vielen Trägern und Heimleitungen gehen die Lockerungen jedoch zu weit, sie fürchten, dass das Corona-Virus in die Heime eindringt.

„Infektionsschutz ist notwendig, soziale Kontakte sind es auch“

Die soziale Isolation der letzten Monate habe dazu geführt, dass Menschen den Lebensmut verloren und nicht mehr gegessen und getrunken hätten, so das Gesundheitsministerium.
Die soziale Isolation der letzten Monate habe dazu geführt, dass Menschen den Lebensmut verloren und nicht mehr gegessen und getrunken hätten, so das Gesundheitsministerium. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Doch was ist überhaupt neu? Die alten Menschen können jetzt zwei Besuche täglich empfangen von je zwei Besuchern drinnen oder vieren draußen. Der Besuch kann wieder auf’s Zimmer kommen, der Abstand ist einzuhalten, für Näheres gilt die Maskenpflicht. Und: Bewohner können bis zu sechs Stunden mit ihren Besuchern vor die Tür.

Die weitgehende Isolation ist damit zu Ende. Sie habe bis zum Verlust des Lebensmuts und zu Verweigerung der Nahrungsaufnahme geführt, so das NRW-Gesundheitsministerium. „Infektionsschutz ist notwendig, soziale Kontakte sind es auch“, sagt Minister Karl-Josef Laumann (CDU). Die Infektionszahlen ließen es zu, so Fachleute im Ministerium: Mitte April gab es demnach 1180 Erkrankte in 171 Heimen, Ende letzter Woche noch 62 Fälle in 22 Heimen.

Verband fordert regelmäßige Coronatests bei Mitarbeitern und Bewohnern

„Sehr kritisch“ sieht das etwa Christof Beckmann, der Landesvorsitzende des „Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste“, der rund 11.000 Einrichtungen in Deutschland vertritt. Es würden „zusätzliche Risiken eingegangen“, obwohl in NRW-Pflegeheimen schon mehr als 600 Menschen an Covid-19 gestorben seien.

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Der Verband fordert „vorsorgliche Regeltestungen der Mitarbeitenden und der Bewohner“. Es sei schwer nachzuvollziehen, dass solche Tests für Mitarbeiter der Fleischindustrie eingeführt würden, „aber in der Pflege soll es sie nicht geben“.

Angst vor Angehörigen, die sich unter vier Augen nicht mehr an die Regeln halten

Praktiker aus Heimen argumentieren ähnlich. „Das ist hoch riskant. Ich habe Angst vor der Umsetzung“, sagt Robert Gentilini, Heimleiter in Herne und SPD-Ratsherr. In seinem Haus würden weiter eigene Besucherräume angeboten, und „wir werden an die Angehörigen appellieren, diese Räume zu nutzen“.

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„Es ist eine Frage der Zeit, wann Corona hier Einzug hält“, sagt ein anderer Heimleiter aus dem Ruhrgebiet, der anonym bleiben möchte: „Ich habe nichts gegen Kontakte, ich habe viele Tränen gesehen.“ Aber er fürchte, dass manche Besucher, allein im Zimmer mit ihren Angehörigen, „unvernünftig sind. Die meisten halten sich an die Regeln, aber es gibt immer auch andere.“

Besucher sollen sich anmelden und bekommen die Körpertemperatur gemessen

Mit Zelten oder speziellen Sprechzimmern – hier eine „Babbelbox“ aus Holland – behalfen sich Heime, um Besuche überhaupt zu ermöglichen.
Mit Zelten oder speziellen Sprechzimmern – hier eine „Babbelbox“ aus Holland – behalfen sich Heime, um Besuche überhaupt zu ermöglichen. © FUNKE Foto Services | Gero Helm

Die Arbeiterwohlfahrt Westliches Westfalen, einer der größten deutschen Betreiber von Pflegeheimen, sieht die Lockerungen nicht so kritisch. Sie begrüßt die neuen Regeln ausdrücklich und wird jetzt die weißen Pagodenzelte vor ihren 57 Heimen abbauen, in denen die Besuche bisher abgewickelt wurden. „Wir stellen uns darauf ein, dass wir längere Zeit mit dem Corona-Virus leben und den Umgang damit in unseren Alltag integrieren müssen.“

Doch der Besuch im Heim ist weiter weit davon entfernt, irgendwie wie früher zu sein. In der Regel muss man sich anmelden, unterschreiben, gesund zu sein, bekommt die Körpertemperatur gemessen und wird aufs Zimmer begleitet. Allein schon, um zu verhindern, „dass jemand zusätzlich noch bei Frau x vorbei schaut, die er ja auch kennt, und mit dem Opa plaudert, der im Rollstuhl auf dem Gang sitzt“. Der personelle Aufwand sei „erheblich. Denn die Pflege macht die Pflege“, so ein Leiter.

Die Arbeiterwohlfahrt bittet darum, mit dem Besuch noch ein paar Tage zu warten

Und so bittet die Awo Angehörige und Freunde, nicht gleich in den ersten Tagen oder am ersten Wochenende zu Besuch zu kommen. „Sie würden den Beschäftigten die Arbeit sehr erleichtern.“ Ein anderer Heimleiter bittet Verwandte, Bekannte und Freunde seiner Bewohner dringend, ihre Besuchswünsche untereinander abzusprechen. „Es kann nicht sein, dass am Ende der Pfleger da steht und sagt: Sie hatten heute schon zwei Besuche, jetzt ist Schluss.“

In der letzten Woche gab es Fälle von Corona in einem Heim in Köln und dreien in Dortmund. In einem der Dortmunder Häuser hatte freilich kein Besucher im engeren Sinn die Infektion eingeschleust, sondern ein behandelnder Arzt. Da nutzt dann auch die beste „Allgemeinverfügung Pflege und Besuche“ nichts.