Essen. Seit einem Monat dürfen Bewohner von Pflegeheimen in NRW wieder besucht werden. Vor Ort sorgt das auch für Ärger: “An der Grenze des Ertragbaren“
Vier Wochen nach dem Ende des Besuchsverbots in den NRW-Pflegeheimen kriselt es in den Einrichtungen. Während Betreiber beklagen, dass Angehörige zunehmend Schutzregeln nicht mehr einhielten und es sogar zu Auseinandersetzungen mit ihnen komme, kritisieren Betroffene, dass Bewohner weiterhin isoliert seien. Das NRW-Gesundheitsministerium hat am Freitag reagiert und eine Dialogstelle eingerichtet.
Weil ältere Menschen in der Corona-Pandemie besonders gefährdet sind, waren die rund 2200 Pflegeheime in NRW ab Mitte März für Besucher geschlossen. Am Muttertag-Wochenende hat das Gesundheitsministerium das Verbot unter strengen Vorschriften gelockert. Die Heime müssen Besucherregister führen, für das Tragen von Schutzkleidung sorgen und Besuchsräume einrichten, in denen Hygieneabstände eingehalten werden können.
Saftige Beschwerdebriefe und Streitigkeiten in Pflegeheimen
Während die Regeln zum Schutz der rund 170.000 Pflegeheimbewohner anfangs auf breite Akzeptanz gestoßen waren, würden einige Angehörige inzwischen nachlässiger, heißt es nun aus den Einrichtungen. Gerade häufige Besucher, die sich wie ein Teil der Einrichtung fühlten, seien schwierig zu disziplinieren, sagt Hans Peter Knips, Landesbeauftragter des Verbandes privater Anbieter sozialer Dienste. „Wir haben oft verbale Auseinandersetzungen mit Angehörigen, die bis an die Grenze des Ertragbaren gehen", so Knips. "Wir erleben dabei eine Aggressivität, wie wir sie sonst nicht gekannt haben.“
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Helmut Wallrafen, Vorstand im Verband der kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen in NRW, berichtet von einerseits sehr vorsichtigen Besuchern und anderseits Menschen, denen Schutzregeln völlig egal seien. "Die Tendenz, uns saftige Beschwerdebriefe zu schreiben oder Mitarbeiter vor Ort anzugehen, weil man sie auf den Sicherheitsabstand hinweist, nimmt zu." Die Heime stellten Masken, die sogar abgelehnt würden.
Träger der Pflegeheime werben um Verständnis: Schwieriger Spagat
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz hingegen kritisiert, dass die stationären Einrichtungen zu Hochsicherheitszonen ausgebaut worden seien. Trotz Aufhebung des Besuchsverbots verwehrten manche Heime den Zutritt, andere ermöglichten ihn nur sehr restriktiv, sagte der Stiftungsvorsitzende Eugen Brysch dem Kölner Stadt-Anzeiger. „Mit Selbstbestimmung und Menschenwürde hat das nichts zu tun.“
Träger der freien Wohlfahrt werben für Verständnis bei Angehörigen: Die Caritas NRW unterstreicht, dass der Spagat zwischen dem Schutz aller Heimbewohner und ihrer Selbstbestimmung eine große Herausforderung sei. „Wir wollen unsere Bewohner nicht einschränken, aber die Verantwortung für die Einhaltung der Schutzmaßnahmen liegt bei den Heimen“, sagte ein Sprecher. Das Spannungsfeld sei enorm: In manchen Heimen müssten Fachkräfte Besuche beaufsichtigen, zugleich litten Bewohner unter Einsamkeit.
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Ein Sprecher des Deutschen Roten Kreuzes Nordrhein ergänzt, dass Anfragen von Bewohnern und Angehörigen drängender würden. Man habe Verständnis für die Wünsche der Betroffenen: "Wir haben aber auch eine Verantwortung für die Gesundheit dieser alten Menschen. Das bringt uns in einen Zwiespalt und lässt uns vorsichtig agieren."
Land will Angehörigen zuhören und richtet Dialogstelle ein
NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) unterstrich am Freitag, dass Besuche unter den Vorgaben des Landes möglich sein sollten. "Die psychische Gesundheit der Pflegebedürftigen darf ohne triftigen Grund nicht zusätzlich belastet werden." Das Land richtete am Freitag eine Dialogstelle für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ein. Sie soll dabei helfen, Streitigkeiten zu schlichten, die bei der Ausgestaltung der Besuchsmöglichkeiten aufkommen können.
>>> INFIZIERTE IN NRW-PFLEGEHEIMEN
Laut NRW-Gesundheitsministerium sind aktuell in 54 stationären Pflegeheimen 174 Bewohner mit dem Corona-Virus infiziert (Stand Mittwochabend). Bisher sind 603 Heimbewohner an einer Infektion gestorben.