Ruhrgebiet. Das 225 Jahre alte Tagebuch eines französischen Flüchtlings zeichnet ein schonungsloses Bild der Region – und bietet einige Überraschungen.

„Hals über Kopf verließ man damals sein Vaterland, wie ein Blatt vom Sturm verweht.“ Das schreibt der Urenkel des Pierre-Hippolyte-Léopold Paillot, der seine Heimatstadt Condé als Flüchtling verlassen musste - während der französischen Revolution. Es verschlug ihn 1793 für ein gutes Jahr an die Ruhr. Der Bottroper Verlag Henselowsky Boschmann hat nun das Tagebuch des damals 34-jährigen Gerbermeisters veröffentlicht.

„Monsieur Paillot im Nirgendwo“ (96 S., 14,90 Euro) ist nicht nur die überraschende Beschreibung einer Zeit, in der Dortmund 800 Häuser zählte, es spiegelt auch heutige Probleme: die Abneigung gegen Flüchtlinge, ja sogar Fahrverbotszonen gibt es schon. Monsieur Paillots Blick ist geprägt durch das Exil und den Vergleich mit seinem schönen Frankreich. Seine Urteile mögen darum hart erscheinen, ihr Wert liegt in ihrer Ehrlichkeit.

Mülheim

„Mülheim mit der Fähre und Schloß und Dorf Broich“, um 1813 - von Johann Heinrich Bleuler.
„Mülheim mit der Fähre und Schloß und Dorf Broich“, um 1813 - von Johann Heinrich Bleuler. © Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr | Johann Heinrich Bleuler

In Düsseldorf, dieser „recht ansehnlichen“ Stadt, hatte der Franzose sich noch wohlgefühlt. Der Carlsplatz wurde gerade gepflastert, doch es gab „nur schlechtes Obst zu kaufen“. Als die Franzosen anrückten, musste die Familie weiter fliehen, zunächst nach Mülheim, das „sehr alt und schlecht gebaut war. Doch die damals schon alte Altstadt mit ihren „Spuren der Vergangenheit“ empfindet der Zeitgenosse als „malerische Mischung verschiedener Stilarten“. Die protestantische Kirche jedoch ist „sehr schmutzig“, die katholische „arm“ und „nur kärglich geschmückt“, die Synagoge immerhin „recht schön“.

Die Landschaft am Fluss, mit seinen Schiffen voller Kohle und Kohl, empfindet Monsieur Paillot jedoch als „wunderbar“. „Die Ruhr war bestimmt reich an Lachsen, denn ich hätte auf dem Markt welche für nur fünf Sous kaufen können.“

Doch gleich nach diesem Spaziergang musste die Familie weiter ziehen: Mülheim hatte angeordnet, dass sich kein Flüchtling länger als vierundzwanzig Stunden in der Stadt aufhalten dürfe. Dies „überraschte uns umso weniger, als wir wussten, dass einen Monat oder sechs Wochen vorher die Stadtbürger gegen die damaligen Emigranten aufgestanden waren. Sie protestierten gegen die Verteuerung der Waren, die die Flüchtlinge durch ihre große Anzahl ausgelöst hatten, und seitdem konnte man sie nicht mehr leiden.“

Essen

Essen, gestochen von Matthäus Merian, 1647.
Essen, gestochen von Matthäus Merian, 1647. © Matthäus Merian

„Unglaublich schlecht gebaut und schwarz sehen die Häuser aus, als hätte man sie mit Absicht geschwärzt“, schreibt Paillot über seinen Einzug nach Essen. „Diese Verfärbung wurde von dem Rauch verursacht, der aus Ofenrohren emporsteigt. Jene in diesen Gegenden sehr verbreiteten Rohre stehen direkt an den Häusern, und sie verlaufen nicht durch Schornsteine, die nur selten zu sehen sind. Diese Stimmung färbte auf mich ab … Während meines Aufenthaltes in dieser trostlosen Stadt versuchte ich irgendetwas Sehenswertes zu entdecken; aber überall erblickte ich nur die größte Unsauberkeit.“

Die „wunderbare Madonna“ im Dom entdeckt der Franzose dann doch, ebenso wie das frühe Kirchturmdenken: „Die Fürstäbtissin und der Rat der Stadt Essen waren sich nicht immer einig. Nur zum Trotz soll sich der Rat geweigert haben, die Pflasterung in der Stadt instand zu setzen.“ Auch war die Tracht der Frauen „recht merkwürdig. Fast alle trugen einen schwarzen Unterrock und ein Korsett, ebenfalls schwarz und mit einer silbernen Borte verziert. Über einem kleinen, straff aufgesetzten Hut haben sie ein Tuch, zurechtgelegt wie der weiße Schleier einer Nonne. Des Öfteren verwechselte ich sie auch mit denen.“

Über „die kleine Stadt Steele“ mit ihrer „schönen Schule und einer Glasbläserei“ floh die Familie weiter über den Hellweg – die hübscheren Seitenwege waren ihr verboten. „Wenn die Straßenarbeiter, die alle das Zeichen des preußischen Königs am Hut hatten und in regelmäßigem Abstand mit der Instandsetzung der Straße beschäftigt waren, gesehen hätten, wie wir uns verkehrswidrig verhielten, hätten sie gegen uns eine Geldstrafe von drei Talern verhängt.“ Hinter Bochum („klein und etwas mittellos“) waren „die Gebühren an den zahlreichen Zollschranken sehr hoch. Damit man sie nicht hinterziehen kann, bekommt man an der einen Zollschranke einen gedruckten Beleg, den man an der nächsten wieder abgeben muss.“

Dortmund

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In Dortmund kann Paillot einige Monate weilen, die noch bäuerlich geprägte Hansestadt ist umgeben von „eintöniger Heide“ und vielen Steinkohlegruben. Der Abbau geschieht „mit Hilfe einer Seilwinde, die bis dreißig Meter Tiefe reichen konnte. Sollte das Grundwasser die Arbeiter stören, so geben sie die Grube auf und fangen woanders an. Die Grube, die sehr eng ist, ist einfach von einem Strohdach überdeckt.“

Die wenigsten Straßen sind gepflastert, die Fachwerkhäuser im Kern Dortmunds „schlecht gebaut“ mit „unbearbeiteten Bruchsteinen oder weiß getünchtem Lehm. Sie stehen mit dem Giebel zur Straße, so dass das Wasser von den Dächern auf die sehr engen Gassen herunterrinnt, was im Sommer oder bei Regen einen unwahrscheinlich üblen Gestank verursacht.“

Dortmund, gestochen von Matthäus Merian, 1647.
Dortmund, gestochen von Matthäus Merian, 1647. © Matthäus Merian

Die Scheunendrescher beginnen ihren Tag um zwei Uhr in der Früh und machen „einen einzigartigen Lärm“. Ein „seltsamer Brauch“ sorgt zusätzlich für schlaflose Nächte: „Nachts, von zehn Uhr abends bis vier Uhr morgens, geht ein Wächter durch die Straßen und verkündet die Uhrzeit, indem er an jeder Straßenecke in ein schauriges und ohrenbetäubendes Jagdhorn bläst. Es machte einen schrecklichen Krach.“

Der Franzose besucht auch Hagen und Iserlohn, das Vest und den Niederrhein, bis er wieder in die Heimat zurückkehren kann. Als Monsieur Pierre-Hippolyte-Léopold Paillot schließlich nach 16 Monaten wieder sein Heim betritt, ergeht es ihm wie dem kleinen „Hobbit“ im gleichnamigen Buch und Film: „Wider Erwarten stellte ich mit Genugtuung fest, dass sich noch Möbel und Wertsachen im Haus befanden. Nur die Hälfte war verschwunden.“

>> Info: Wie Monsieur Paillot zu Herrn Boschmann fand

Pierre-Hippolyte-Léopold Paillot, 21. März 1759-23. April 1815.
Pierre-Hippolyte-Léopold Paillot, 21. März 1759-23. April 1815. © HO | Ho

„Die erste Spur von ihm hätte ich fast überlesen“, schreibt der Bottroper Verleger Werner Boschmann im Nachwort. „Auf der Suche nach der Größe der Belegschaft einer Hamborner Zeche fand ich in der Stadtbibliothek Essen (das ist die Stadt, die bei ihm am schlechtesten wegkommt) den kleingedruckten Hinweis, dass ein Professor Meyer aus Wanne-Eickel in der „Monatsschrift der Vereinigten Stahlwerke AG“, Ausgabe 7, 1927, etwas über „Das Bild des Ruhrbezirks vor 130 Jahren“ geschrieben hätte, und zwar „nach den Aufzeichnungen des französischen Emigranten Paillot aus Condé“.

Seine Recherchen führen den Ruhrgebietskenner Boschmann nach Herne, Paris und Brüssel, bis er dort in der Königlichen Bibliothek eines von nur 200 gedruckten Exemplaren findet, herausgegeben vom Urenkel Paillots. Dieser musste noch zweimal „das bittere Brot des Exils kosten“, schreibt der. Doch seinen Lebensabend verbrachte Monsieur wieder in der Heimat und sah die Kinder seiner Kinder aufwachsen.