Herne. Wer an Bord der „MS Baldeney“ Platz genommen hat, reist einige Jahrzehnte in die Vergangenheit, trifft fremde Kinder und dabei doch sich selbst.
Es muss nicht gleich eine Seefahrt sein, damit die Sache eine lustige Angelegenheit wird. An Bord der „MS Baldeney“, die am vergangenen Donnerstag als Kulturschiff über den Rhein-Herne-Kanal schipperte, hatten die 150 Passagiere mindestens genau so viel Spaß und mussten dafür nicht einmal in fremde Länder aufbrechen.
Geschichten rund um Reime, Lieder und Spiele
Vor allem muss hier niemand hochseetauglich sein, um sich von den Geschichten rund um Abzählreime, „Oh, du lieber Augustin“ und Kreidezeichnungen in die eigene Kindheit zurückversetzt zu fühlen. Bei ruhigem Wellengang und gemütlichen 6 Km/h lesen Lars von der Gönna, Kulturredakteur der WAZ und Autor, und Verleger Werner Boschmann aus Helmut Spiegels „Das Bollerrad muss bollern, der Knicker, der muss rollern“.
Die kleinen Geschichten spielen vor, während und nach dem Krieg, in einer Zeit, als die Playstation noch Hinterhof hieß und nicht alle paar Minuten die Straße frei gemacht werden musste. Ihre kleinen Helden erzählen vom „Pitschendopp“ und wie man es richtig macht, und den großen Augen, welche die neuen Rollschuhe bei den Nachbarskinder hervorrufen. Während unten die Passagiere Reihe an Reihe sitzen und sich die Handgelenke wund fächern, genießen einige wenige unter freiem Himmel den angenehmen Fahrwind bei einem Gläschen Weißwein. Boxen auf dem Deck übertragen zwar die Lesung, zwingen jedoch zum genauen Hinhören und lassen auch das herzerwärmende Spiel der beiden Freunde aus Kindheitstagen vermissen.
Passagiere pusten Seifenblasen über die Reling
Vorbei an winkenden Menschen in Badehose und Bikini zieht das 38 Meter lange Fahrgastschiff unter der stählernen Papageienbrücke und der hängenden Grimberger Sichel hindurch, um schließlich mit einer 180-Grad-Wendung wieder zurück zu fahren. In der Pause wuseln die Passagiere auf dem Deck umher und probieren sich einmal selbst am Diabolo oder pusten Seifenblasen über die Reling. Mehr als Hans Albers’ „La Paloma“ aus den Boxen und einem kühlen Stauder aus der Flasche braucht es hier nicht, um die vorbeiziehende Landschaft zu genießen. Auch die Sonne steht inzwischen angenehm niedrig am Horizont. Entspannt sitzen Damen und Herren an den Tischen zusammen, betrachten den Sonnenuntergang oder unterhalten sich angeregt über vergangene Kindheitstage. Dazwischen verschwitzte Kellner, die Tabletts durch die Reihen tragen und den Temperaturen mit im Eisfach heruntergekühlten Handtüchern trotzen.
In der zweiten Hälfte haben sie die Reihen unter Deck deutlich gelichtet, wo Boschmann und von der Gönna ihre ewigen freundschaftlichen Streiterein schließlich mit einem Handschlag beilegen und von einem Schützenfest in der Nachkriegszeit erzählen. Nach den Entbehrungen des Krieges solle auch den Kindern wieder eine Freude gemacht werden und so kratzt die Nachbarschaft für einen Kuchen alles an Mehl, Eiern und Zucker zusammen, was von den Vätern noch nicht zu Schnaps gebrannt wurde. Tristesse zwischen Fliegerangst und Ruinen, aus denen es die Kinder doch schaffen zu entfliehen, sei es auch nur für ein paar Stunden auf unbefahrener Straße.