Gelsenkirchen. Eine üble Raupe sorgt im Revier für geschlossene Sportstätten, Parks und Wälder. Baumpfleger kommen kaum nach, befallene Eichen zu befreien.
Marvin und Marlon (5 und 8) zeigen die Pusteln an ihren Bäuchen, auch Vater Christian Ringeler streckt seinen Arm her: als habe die Fremdenlegion ihre Zigaretten darauf ausgedrückt. Die Familie wohnt im Gelsenkirchener Norden, nahe dem Sportplatz von Viktoria Resse 75, eine hübsche grüne Anlage, nur findet sie der Eichenprozessionsspinner auch ganz lauschig. Die Haare dieser Raupe wehen wie Pollen durch die Luft und wirken wie Brennnesseln, reizen Augen und Atemwege. Drei Wochen litt die Familie unter Ausschlag, die Kinder bekamen Antiallergika und Cortison. Mutter Katrin Ringeler musste das Jucken ertragen, sie ist im vierten Monat schwanger.
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Das Leiden ist nun bald vorüber, denn seit Montag entfernt der Baumdienst Enbergs die Raupennester aus den Eichen. Es ging einfach nicht schneller, denn an allen Ecken brennt und juckt es in der Region. Sportplätze, Parks und Wälder sind gesperrt wie der an der Gladbecker Kita St. Johannes, nachdem Kinder über Pocken geklagt hatten. Die Drittklässler der Essener Bodelschwingh-Grundschule mussten ihre Fahrt nach Reken abbrechen, in Münster operierten Ärzte gar einem Patienten die widerhakenbesetzten Brennhaare aus dem Auge. Und alle – Städte, Vereine, Gartenbesitzer – rufen sie an bei Firmen wie der von Reinhard Enbergs in Bottrop: „Man muss es vergleichen mit einer Hochwasserkatastrophe.“
Alle Kapazitäten sind derzeit ausgebucht, „Glücksritter machen den schnellen Euro“, sagt Enbergs und meint Hausmeister- und Schlüsseldienste, die Nester zu überteuerten Preisen entfernen, ihre Mitarbeiter aber nicht ausreichend vor den giftigen Härchen schützen. Die klassischen Schädlingsbekämpfer dagegen hätten oft Schwierigkeiten, in die Baumkronen zu gelangen.
Der Spinner vermehrt sich explosiv
Das Phänomen ist auch recht neu. Zum ersten Mal ist der Eichenprozessionsspinner in Gelsenkirchen erst 2017 in Erscheinung getreten, in Erle auf einem Spielplatz. Es gab Einzelfälle. „Im letzten Jahr ist es dann explodiert“, sagt Tobias Heyne, Sprecher der Gelsendienste. Und seit diesem Juni gibt es kein Halten mehr, denn offenbar war der Winter nicht kalt genug, um die Eier des Schädlings zu zerstören. Waren in den Vorjahren nur Stiel- und Traubeneichen befallen, frisst sich die Raupe nun auch gelegentlich durch das Blattwerk der Roteiche. „Es ist einfach eine Auswirkung es Klimawandels“, sagt Reinhard Enbergs.
Am Mittwochmorgen treffen wir seine Mitarbeiter Tim Aßenmacher (26) und Vassiliy Kolesnik (45) bei Viktoria Resse bei der Säuberung des 52. Baumes innerhalb von zwei Tagen. Schneller geht es nicht. Mit dem Hubsteiger muss das Team durch die Krone manövrieren und jeden Ast von zwei Seiten absuchen, um die zuckerwattigen Gespinste der Larven mit einem Asbestsauger einzufluppen. In der Regel sind sie groß wie Straußeneier, manchmal aber auch wie Medizinbälle. Dann reißt Tim Aßenmacher sie vorsichtig ab und stopft sie in den Sack. Denn auch wenn die Larven im Laufe des Julis schlüpfen und als Schmetterlinge in die Nacht fliegen, lassen sie ihre schützende Haut zurück. Die Nester bleiben über Jahre toxisch.
Luftdicht klappt nicht immer
Darum trägt das Team Einweg-Schutzanzüge und Vollvisierhelme, die gefilterte Luft liefert eine akkubetrieben Pumpe am Gürtel. Tim Aßenmacher oben auf der Plattform hat sogar die Handschuhe mit Klebeband luftdicht geschlossen. Und trotzdem bekommen die beiden hier und da Pusteln. Je nach Einsatzlage und Wetter verbrauchen beide bis zu zehn Anzüge täglich. „Heißes Wasser hilft“, sagt Kolesnik, „wenn man mitternachts vom Jucken aufwacht.“
Die mechanische Entfernung ist sicher, aber aufwendig. Insektizide wie Bacillus thuringiensis oder Neem-Präparate wirken nur bis zum zweiten Larvenstadium, also bis Ende Mai. Zudem vergifte man so auch andere Schmetterlings- und Käferarten, erklärt Reinhard Enbergs. Städte setzen sie aber punktuell ein, etwa am Duisburger Zoo. Die Sicherheit anderer Methoden wie heißes Wasser sei noch nicht ausreichend erforscht, um sie sicher anzubieten, so Enbergs. „Nächste Woche gibt es eine Vorführung mit einem neuen Bioprodukt, ein Heißschaum.“ Und in Holland stellen sie Meisenkästen auf. Über all diese Möglichkeiten will auch Gelsenkirchen groß beraten, um für das nächste Jahr gerüstet zu sein, sagt Stadtsprecher Oliver Schäfer. Denn weitere heiße Sommer sind vorhergesagt. Der Eichenprozessionsspinner ist wohl gekommen, um zu bleiben.
>> Info: Die Raupe mag es sonnig
Wie groß das Problem tatsächlich ist, lässt sich in Zahlen nur schwer ausdrücken, denn zum Beispiel in Gelsenkirchen sind nicht alle Stadtteile gleichermaßen betroffen. Der Eichenprozessionsspinner breitet sich offenbar von Norden her aus, hier sind aktuell 1630 Eichen als befallen gemeldet. Im Stadtsüden sind es laut Gelsendienste nur 76 Bäume, was mit marginalen Temperaturunterschieden, aber auch mit Zufall zu tun haben mag. Im Vorjahr waren es in der gesamten Stadt nur 1100 Bäume. Kühlere Orte wie Wuppertal und Remscheid machen dieses Jahr erstmals die Bekanntschaft.
Auch der Regionalverband Ruhr als größter Waldbesitzer der Region meldet ein uneinheitliches Bild. Der Norden des Reviers ist stärker betroffen, hier ist der Eichenbestand aber auch dichter. Klar ist: Die Raupe mag es sonnig und bevorzugt entsprechend Bäume in Randlagen, also auch an Wegen. So war laut RVR am Radweg Emscher-Lippe-Route auf einem Teilstück von neun Kilometern Länge fast jede Eiche befallen.