Kaarst. . Neugier ist menschlich, kann aber ausufern: Nun soll mobiler Sichtschutz den Blick auf Opfer versperrn. Es dauert allerdings, bis er vor Ort ist.
Keine schöne Szene! Ein kleines orangefarbenes Auto, wie es junge Frauen fahren, böse eingeklemmt zwischen zwei Lastern, Blaulicht flackert, Männer hasten. Drumherum stehen ungefähr 50 Polizisten, Straßenwärter und Journalisten und gucken dieser Vorführung wider das Gaffen zu. Klingt absurd – doch wenn’s der guten Sache dient . . .
Der Unfall von Freitagmorgen war nämlich nur inszeniert. Und die Vorführung in der Autobahnmeisterei von Kaarst bestand vor allem darin, dass drei Mann in aller Hast die vermeintliche Unfallstelle mit Stellwänden abschirmten. Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Das soll von heute an auf allen Autobahnen in Nordrhein-Westfalen möglich sein: Wenn es spektakulär gekracht hat, sollen Schaulustige nichts mehr zu gucken haben. Landesverkehrsminister Michael Groschek (SPD), Freund klarer Worte, sagt es so: Es gebe „kein Recht auf Selfies mit Unfallopfern“.
Fotos machen und filmen
Um Leute geht es, die bei Unfällen in Gegenrichtung bremsen, die Fotos machen und filmen und die Retter behindern. Das alles häufe sich, behauptet die Polizei, Zahlen gibt es keine. Wohl aber das hässliche Phänomen, dass die Amateuraufnahmen von Blech und Blut oft im Internet landen. Noch mal Groschek: Es gehe nicht um reflexhafte Neugier, sondern eine „ausufernde Fotomanie“.
Dabei ist Schaulust so alt wie die Menschheit. Schon die Frau von Lot drehte sich um, um Sodom schön brennen zu sehen. Dass sie darüber zur Salzsäule erstarrte, dürfte heutige Ordnungshüter überaus interessieren.
Verhalten, "mit dem ein Kind die Welt erforscht"
Auch in den folgenden Jahrtausenden zog es die Leute zuverlässig dorthin, wo Menschen enthauptet wurden und Hände abgehackt, und bis in die jüngere Vergangenheit hat sich daran nichts geändert.
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So erinnert sich der Duisburger Polizeisprecher Ramon van der Maat an seinen ersten Unfall mit einem Toten, den er im Jahr 1980 bearbeitete: „Ein alter Mann lag unter der Straßenbahn. Dass die Leute sich nicht zu ihm hinuntergebückt haben, war alles.“ Und Kenner verstehen die polizeiliche Aufforderung „Gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen“ geradezu als Versprechen schockierendster Anblicke.
Die Psychologie habe für die Schaulust „mehrere Erklärungsansätze“, sagt Professor Frank Lasogga von der Universität Dortmund. Neugierverhalten, „das Verhalten, mit dem ein Kind die Welt erforscht“. Unbewusst möchte sich der Zuschauer vergewissern, dass er unversehrt ist. Und erfahren, ob er selbst in Gefahr ist, fliehen muss, etwas lernen kann fürs eigene Überleben. „Das spielt alles eine Rolle“, sagt Lasogga: „Und bei allem Außergewöhnlichen guckt der Mensch einfach hin.“ Das müsse man tolerieren, solange „bestimmte Grenzen nicht überschritten werden“. Jetzt setzt das Land solchen Grenzverletzern welche.
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Unspektakuläre Stahlgestelle mit undurchsichtiger Folie
Es verspricht sich von den neuen Sichtschutzwänden weniger Staus, weniger Auffahrunfälle in Staus und weniger Nervenbelastung der Retter, wenn ihnen keine Neugierigen mehr bei der Arbeit zuschauen können.
Die Wände selbst sind denkbar unspektakuläre Stahlgestelle, 2,10 Meter hoch und mit undurchsichtiger grüner Folie bespannt. Sie lagern von heute an an zwölf Stellen in NRW, darunter Dortmund und Recklinghausen. Die Polizei kann sie anfordern, wenn sie nach einem Unfall stundenlange Sperrungen erwartet, und spätestens 100 Minuten nach dem Alarm sollen die Gestelle stehen. Dann gilt Tempo 60, denn sonst fallen sie um.
Welch ein Anblick!