Essen. Seit einer Woche bremsen Bergbauschäden am Essener Hauptbahnhof den Regionalverkehr in ganz Nordrhein-Westfalen aus. Für viele Bahnpendler bedeutet das vor allem Eines: Geduld beweisen. Unsere Autorin - Bahnpendlerin - hat aufgeschrieben, was sie in diesen Tagen als “Stollenopfer“ erlebt.

Falls es irgendjemanden gibt von den Tausenden und Abertausenden, die täglich zu Arbeit pendeln und die das, was mein Elend ist, auch als ihres kennengelernt haben - falls es also jemanden gibt, der mich hört, dem rufe ich entgegen: „Ich brauche dringend Rettung vor dem Wahnsinn im Regionalverkehr.“

Die Verzweiflung muss mir anzusehen sein: Donnerstagabend, 20 Uhr, mein Kaffäääälatte-Mann am Duisburger Bahnhof schenkt mir ne Dose Red Bull und sagt: „Viel Spasss noch mit der Deutschen Bahn“. Haha.

Während ich in seinem Bistro sitze, flöten Stimmen durch die Bahnhofshalle: „Sehr verehrte Fahrgäste, wegen eines Bergbauschadens…" haben alle Züge eine Million Minuten Verspätung. Gefühlt sogar zwei Millionen. Quiekende Girlies palavern nicht über Boys und Nagelpolish, sondern über „die beschissene Bahn“ (sorry, O-Ton).

Sie warten nämlich schon über 30 Minuten. Laut Entschädigungsregelung müssten sie einen heißen Tee oder Kakao von der Bahn kriegen, meinten sie. „Nützt ja nix“, sagt eine Lena und gibt das Rezept des ultimativen Bahnhofscocktails an ihre Mädels weiter: "Zwei Liter Tomatensaft, eine Flasche Korn, ein bisschen Tabasko. Ne Chillischote. Da brennt dir alles weg. Da biste total plemplem."

Wie in einem Alptraum gefangen von Gleis zu Gleis

Ja, ich bin ein Stollenopfer. Ich muss morgens vom Niederrhein über Duisburg nach Essen und abends dasselbe zurück. Ich renne seit über einer Woche wie in einem Alptraum gefangen von Gleis zu Gleis. Wo fährt was? Meist fährt gar nichts. Wenn dann doch: rein da. Auf jeden Fall: Man kommt zu spät. Überall und immer ist man zu spät. Donnerstag habe ich von Düsseldorf nach Essen fast drei Stunden gebraucht, sonst geht das in knapp ner halben.

Was passiert war – der Zug fuhr einfach in eine andere Richtung. An sich fährt der ja von Düsseldorf nach Essen in einem durch. Aber gestern hat er es sich während der Fahrt anders überlegt. Essen dies mal nicht, nur Altenessen. Wer möchte nach Altenessen?

Zug hält gar nicht dort, wo er es eigentlich soll

Bloß nicht, also nix wie raus. Duisburg, der rettende Bahnhof. Die Umverteilungsstation für Gestrandete. Wie komm ich nach Essen? Hilfe! Erstmal warten, dann noch mal warten. Dann der nächste RE. Laut Anzeige alles paletti. Also rein. Halbe Stunde vertrödelt, egal. Drinnen eine Viertelstunde gehockt, okay, man muss Geduld haben. Ist ja nicht für immer. Nächstes Jahr wird alles gut. Ich esse zur Beruhigung eine Rosinenschnecke. Dann wirft der Lokführer den Motor an und eine Stimme sagt: „Wie ich gerade erfahren habe, hält unser Zug nicht in Essen.“ WAAASS?

"Man ist soweit, dass man sogar nach Itzehoe fahren würde, Hauptsache eben über Essen." 

Ich reiße meinen Mantel vom Haken, stopfe die Schnecke noch irgendwie in den Mund, schnappe meine Taschen und schaffe so eben noch die Flucht. Ab zur S-Bahn. 150 Minuten Verspätung steht da und, dass sie nicht in Solingen hält. Na und? Was soll das denn jetzt wieder? Solingen ist doch die falsche Richtung. Egal, keine Feinheiten. Dafür hat man keine Nerven mehr. Man ist soweit, dass man sogar nach Itzehoe fahren würde, Hauptsache eben über Essen.

Auf der Anzeigetafel für die S-1-Linie steht: „Essen-Frohnhausen“ als Endstation. Ich muss zum Hauptbahnhof, der ist dahinter! Hallo?? !!!. Egal! Ich muss ja mal weg. Die Bahn fährt weiter als Frohnhausen, aber in Essen-West steige ich aus, es ist rappelvoll, die Leute essen im Zug. Nicht nur Rosinenschnecken. Es riecht nach Fritten und Zwiebeln. Mittagszeit eben. Ich habe genug und gehe zu Fuß weiter.

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Täglich 150 Kilometer zur Arbeit

Oh doch, ich fahre gern Bahn, weil ich täglich fast 150 km von Zuhause bis ins Büro zurücklege. Ich pendle und der Zug Richtung Niederrhein fährt nur einmal die Stunde. Mit dem Auto ist das mehr als doppelt so teuer und gar nicht so viel schneller. Und nen Parkplatz finde ich auch nicht. Dafür ist es mit der Bahn im Prinzip ja dreimal so komfortabel. Man kann shoppen, zum Klo (1 Euro! Aber 50 Cent kann man beim Bäcker zurückkriegen). In Duisburg und Essen bin ich bei den Bäckern Stammkundin. Selbst das Schuhgeschäft kennt mich schon. Natürlich ärger ich mich auch über die Bahn, vor allem wenn die Durchsagen fehlen oder so komplett aberwitzig sind.

Die gehen dann in etwa so: „Der Regional-Express von Hamm über Bochum, Bochum-Wattenscheid, Essen, Mülheim an der Ruhr..“ Ja meine Güte, was ist mit dem Zug los? Fällt er aus? Oder hat er Verspätung? Kommt in die Strümpfe, Jungs, damit ich umdisponieren kann. Bis die entscheidende Info kommt (Verspätung!), sind wertvolle Minuten dahin. Man hätte doch noch nach Gleis 7 rüber rennen können.

Man überlegt, wie man eine Brücke über die Gleise bauen könnte

Da fährt die S-Bahn. Aber von Gleis 2 zu Gleis 7 (S 1) braucht man im vollen Galopp 1,5 Minuten. Das ist viel. Man sieht von Gleis 2 aus die S-Bahn auf Gleis 7 einfahren, aber man schafft es nicht. Man möchte am liebsten über die Gleise laufen, überlegt in konstruktiven Momenten Konstruktionen, die man als Brücken über die Gleise bauen könnte, damit man ratzfatz von Gleis zu Gleis kann.

"Die Abfahrtszeit war noch nicht erreicht, der muss doch aufmachen! Nein. Türen und Licht defekt, sagt eine Frau am Gleis. Was Neues." 

Ein Beispiel: Der Regio-Express kommt 19.32 Uhr, die S-Bahn 19.35, also eigentlich. Manchmal rennt man ja schon, weil der Regio-Express nicht kommt, auf gut Glück nach Gleis 7. Da steht angeschlagen: 15 Minuten Verspätung, das ist zuviel. Also zurück zu Gleis 2. Der hat jetzt auch 15 Minuten Verspätung. Aber was sieht man da am Gleis dahinter? Die S-Bahn kommt doch! Gar keine 15 Minuten später, nur 5! Das hätte man schaffen können, aber jetzt? Gut, man schultert seine Tasche und auf geht es.

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Man fällt fast kopfüber die Treppen runter, rast zwischen den Koffern hindurch, jagt die Treppen wieder rauf (deshalb: nie hohe Schuhe anziehen! Sie brechen sich das Genick bei dem Tempo und der Flexibilität, die hier gefordert wird) – ja, die S-Bahn steht noch da. Wie herrlich. Man will rein, doch das geht nicht! Der macht die Türen nicht mehr auf. Man klopft, man wimmert – nichts. Dann also Zurückjagen. Jetzt müsste der Regionalexpress da sein – das das wäre ja zu einfach. Er ist gerade weg. Jetzt Plan B. Man gibt nicht auf.

„Sowas Dreistes gibt es nur im Ruhrgebiet!“

Der ICE nach Basel. Kostet etwa 16 Euro. Viel Geld nach dem Theater. Also fragt man höflich, ob man so mitgenommen wird. Betteln, dafür bin ich gar nicht gemacht. Ein Zugbegleiter schrie mich mal an: „Sowas Dreistes gibt es nur im Ruhrgebiet!“ Ich durfte allerdings schon oft mitfahren, aber meistens passiert den ICE’s unterwegs irgendwas Dummes, dass er auch ewig braucht, und ich den Anschlusszug verpasse, Donnerstag, nach dem Red Bull, bin ich also hoch zum Anschlusszug. Herrlich, da stand er schon. Aber er war komplett dunkel. Drinnen saßen jedoch Leute. Ich presste die Nase an die Scheibe. Doch, da saßen welche. Sie aßen was und hatten Stöpsel in den Ohren… Ich klopfte.

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Die Abfahrtszeit war noch nicht erreicht, der muss doch aufmachen! Nein. Türen und Licht defekt, sagt eine Frau am Gleis. Was Neues. Meist fällt einfach nur die Heizung aus. Oder der ganze Zug wegen Stellwerksstörungen. Dann durfte ich schon mal mitten auf der Strecke aussteigen. Zu Fuß übers Gleis nach Hause. Meine Bekannte – ja, man lernt sich kennen als Pendler – trug noch Arbeitskleidung, also Highheels, sie ist Schuhverkäuferin. Was man schon erlebt hat. Gestrandet an Bahnhöfen, die es gar nicht mehr gibt. Getröstet, dass Busse eingesetzt werden, die nie kamen. Endlich gehen die Türen auf. Die Durchsage: „Sehr verehrte Fahrgäste. Wegen einer einseitigen… “

Ich habe nicht mehr hingehört. Ich habe den Rest Red Bull getrunken und bin eingeschlafen.