Leipzig. . Die Düsseldorferin Sabine Seggelke, heute 80, war als junge Frau Zeugin des Volksaufstandes in der DDR. Ein Ereignis, ausgehend von der geforderten Normerhöhung für die DDR-Arbeiter, wächst sich in Städten wie Berlin und Leipzig zum harschen Protest gegen die wirtschaftliche Situation und Versorgungslage aus. Und macht die junge Studentin zuerst glücklich und später todtraurig.

Als Sabine Wegeleben an diesem Morgen des 17. Juni zur Universität Leipzig geht, denkt sie mehr an den Vorabend, an das Konzert des Gewandhausorchesters, das Beethoven gespielt hatte, die „Neunte“. Die Studentin, gerade 20 Jahre alt, ahnt nicht, dass sie in wenigen Stunden Zeugin und Akteurin eines historischen Geschehens sein wird, eines Erlebnisses, das sie für kurze Zeit glücklich und später todtraurig stimmen wird. Es ist der Morgen des 17. Juni 1953.

„Wir hatten in unserem Studentenheim weder Telefon noch Radio, wir wussten also nichts von den Arbeitsniederlegungen in Ost-Berlin am Tag zuvor.“ Erst im „Ge-Wi“ Seminar stellt sie fest, dass der Dozent eben nicht über Gesellschaftswissenschaft redet, sondern die Studenten eindringlich bittet, nicht in die Stadt zu gehen, weil es dort zu gefährlichen Unruhen kommen könnte.

Sabine heißt schon viele Jahrzehnte Seggelke mit Nachnamen, sie ist jetzt 80 Jahre alt und lächelt spitzbübisch, als sie sagt: „Natürlich sind wir doch in die Stadt gegangen.“ Die Studenten sind keineswegs abgehoben, sie kennen sehr wohl die Probleme, erleben sie ja am eigenen Leib.

Zehn Prozent Normerhöhung

„Die wirtschaftliche Situation war erbärmlich, die Versorgung wahrlich schlecht. Es gab noch Lebensmittelscheine, aber nie frisches Obst oder Gemüse. Das ging alles in die Konservenindustrie der UdSSR. Und jetzt drohte die Normerhöhung um zehn Prozent. Die Leute sollten mehr arbeiten ohne jede Verbesserung. Ich verstand gut, warum die Menschen auf die Straße gingen.“

Und sie gingen zu Zehntausenden an diesem Tag. „Es wurden in Windeseile immer mehr. Darunter viele Arbeiter, erkennbar an ihren Lederschürzen und groben Schuhen, andere in Büro- oder Straßenkleidung. Am Neuen Rathaus stand ein Wagen mit der Aufschrift ‘Nieder mit Piek und Grotewohl’, dazu riefen die Leute ‘Weg mit Ulbricht’. Und dann auch ‘freie Wahlen’ und ‘Freiheit für die politischen Gefangenen’.“ Zu den wirtschaftlichen kamen die gesellschaftlichen Forderungen.

Sabine Seggelke als junge Frau in Leipzig
Sabine Seggelke als junge Frau in Leipzig © privat

Sabine gerät zwischen den Menschen ins Schweben, eine Leichtigkeit erfasst sie. „Es war so wunderbar zu erleben, dass man nicht alleine war mit seiner Meinung. Vorher sprachen wir ja nur in kleinen Gruppen Gleichgesinnter, wir fühlten uns isoliert.“ Und jetzt diese Befreiung, frische Luft, endlich mal den Rücken frei. Und keine Angst. „Ich hatte meine ganze Kindheit und Jugend Angst, erst vor den Nazis, dann begannen in der DDR auch wieder diese Bespitzelungen. Immer dieser Blick über die Schulter, man hat nur im Bad bei laufendem Wasser geredet.“ Das hat sie tief geprägt. „Noch Jahre später im Westen habe ich im Café sofort mit dem Reden aufgehört, wenn die Bedienung an den Tisch kam.“

Das Geräusch der Panzerketten

Die Menge ist jetzt vor dem Bahnhof angekommen. Die Menschen umarmen sich und die Volkspolizisten, die hier und dort kurz auftauchten, ziehen sich stets schnell wieder zurück. „Doch dann kamen die Panzer. Dieses Geräusch der Ketten kannte ich gut aus dem Krieg, es ließ mir auch jetzt wieder das Blut in den Adern gefrieren.“ Zunächst allerdings sind die russischen Soldaten entspannt. „Die saßen oben drauf und rauchten. Dann plötzlich verschwanden alle in den Luken, die Panzer stellten sich vor den Bahnhof und die Rohre zeigten über die Köpfe der Menschen hinweg. Plötzlich fielen rechts neben dem Bahnhof Schüsse, vereinzelte, kein MG. Aber die Menge begann sofort, sich zu zerstreuen.“ Nicht etwa in Panik. „Wir hatten ja alle den Krieg noch im Körper. Wir sind einfach auseinandergegangen.“

Zu Hause im Heim spricht sie noch mit den anderen Studenten über das Erlebte. Aber da schon ist die Angst zurück. Zu Recht. Es folgen Verhaftungen, Hinrichtungen, Ausgangssperre. „Ich konnte meine Familie in Merseburg über Tage nicht erreichen.“ Erst später erfährt sie, dass der Bruder, ein Lehrer, nur knapp der Verhaftung entgangen war. „Er war auf der Straße erkannt worden. Aber der Direktor der Schule, obwohl strammer SED-Mann, gab ihm ein Alibi.“

Sabine Seggelke zieht nach Halle, 1956 erheben sich die Menschen in Ungarn, der Aufstand macht auch die DDR-Oberen nervös. „Ich wurde schon die ganze Zeit bespitzelt, obwohl ich gar nicht politisch aktiv war. Eines Tages kam dann eine Mitstudentin zu mir und sagte: ‘Morgen wirst du verhaftet.’ Ich weiß nicht, woher sie das wusste und warum sie mich gewarnt hat, sie war Parteigenossin, aber ich war dankbar, weil mir sonst sechs Jahre Zuchthaus gedroht hätten, § 6, Boykott-Hetze.“

Sprachunterricht für Schauspieler

Sabine Seggelke entkommt nach Berlin, lebt und heiratet später in Hannover, bringt dann über viele Jahre an der Essener Folkwangschule jungen Schauspielern das Sprechen bei. Heute lebt sie in Düsseldorf. Der 17. Juni 1953 war ein wichtiger Tag in ihrem Leben. „Er brachte mir ein Glücks-Gefühl. Für einige Stunden erlebte ich, was ich nur aus Wunschträumen kannte: Freiheit.“