Duisburg. . Der Aufstand in der DDR hatte viele Gründe. Doch erst die Erhöhung der Arbeitsnormen machte die Menschen so zornig, dass sie auf die Straße gingen. Ein Duisburger, der damals in einem Berliner Stahlwerk arbeitete, erinnert sich an die historischen Tage. „Es war das Kernkapitel meines Lebens“, sagt der 78-Jährige Wolfgang Balke heute.
Es ist ja nun schon 60 Jahre her, aber Wolfgang Balke weiß noch, wie das damals war im VEB Stahl- und Walzwerk Wilhelm Florin in Hennigsdorf bei Berlin. Da kam das Walzgut 1000 Grad heiß aus dem Ofen heraus, wurde mit langen Zangen gepackt und mit Muskelkraft in die Vorwalzen gewuchtet.
„Diese Arbeit war so schwer, das können Sie sich gar nicht vorstellen“, sagt Balke. „Alle 20 Minuten mussten wir abgelöst werden. Ich war, 18 Jahre alt, sportlich, aber einmal bin ich einfach entkräftet zusammengebrochen.“
Wenn man so einem damals sagte, er müsse jetzt fürs gleiche Geld zehn Prozent mehr arbeiten, wie sollte das bitte gehen?
Viele Gründe für den Aufstand
Der Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR hatte viele Gründe: leere Regale, volle Gefängnisse, Enttäuschung über die Diktatur und über die Teilung des Landes. Doch erst die Erhöhung der Arbeitsnormen durch die DDR-Führung im Mai machte die Menschen so wütend, dass sie auf die Straße gingen.
Am 16. Juni legten Berliner Bauarbeiter den Hammer weg, am 17. gab es im ganzen Land Streiks, Ämter wurden besetzt, Polizisten verprügelt. Die DDR-Führung ging nach Karlshorst, wo die Sowjets ihr Hauptquartier hatten. Erst der Roten Armee gelang es mit Kalaschnikows und Panzern, den Aufstand zu brechen. Ab dem 18. Juni kam es nur noch vereinzelt zu Streiks. Zu diesem Zeitpunkt waren wohl schon über 30 Tote zu beklagen – von insgesamt 50 bis 70, genauer weiß man es einfach nicht.
Wolfgang Balke schlief
Wolfgang Balke bekam vom Beginn des Arbeiteraufstandes gar nichts mit, und das gerade deshalb, weil er Arbeiter war. In jener Woche hatte er Nachtschicht. Und so schleppte er sich am Morgen des 17. Juni vom Werk in seine Wohnung und legte sich schlafen. „Ich war müde wie ein Hund“, sagt er. Er schlief, als die Frühschicht streikte. Er schlief, als Otto Grotewohl im Rundfunk die Rücknahme der Normerhöhung verkündete.
Und er schlief auch, und das wäre ihm fast zum Verhängnis geworden, als die Sowjets den Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre verhängten. So ging er abends wieder aus dem Haus und schlug den Weg zum Werk ein, denn er hatte ja immer noch Nachtschicht. Doch er war keine 100 Meter gegangen, da hielt ihn ein Volkspolizist auf: „Mensch, hau bloß ab! Hast du ein Glück, dass ich kein Sowjet bin, dann hätte ich sofort geschossen!“
Der Streik wurde zum Aufstand
Streik. Was war das noch? Die Jüngeren hatten gelernt: „Kampfmethode der Arbeiterklasse gegen die Monopolkapitalisten im Zeitalter des Imperialismus“. Doch in der DDR waren Streiks widersinnig, weil die Betriebe ja in Arbeiterhand waren. Als Wolfgang Balke von einem Kollegen erfuhr, dass gestreikt wird, da sagte er nur: „Das kann ja gar nicht sein.“
Doch der Streik wurde sogar zum Aufstand. Aus Hennigsdorf zogen sie ins Berliner Zentrum und beteiligten sich an Straßenschlachten – Balke sah einen Mann blutüberströmt von dort zurückkommen. Es gab auch im Ort Gewalt – Balke hörte, dass sie jenen verhassten Volkspolizisten totgeprügelt hatten, der am S-Bahnhof immer die aus Westberlin eingeschmuggelte Margarine konfiszierte.
Aufstand ohne Anführer
Am 18. zwang die Rote Armee die Arbeiter wieder an die Walzstraße – doch sie produzierten nur Schrott und verschlissen die Anlage. Vor dem Tor versammelten sich Arbeiter und Restbevölkerung und diskutierten aufgeregt. Über die Norm, die Versorgungslage, die SED, die Einheit Deutschlands. „Wir wollten alle irgendwas unternehmen“, sagt Balke heute, „aber keiner wusste, was.“
Am Abend genügte die Drohung, das Werk zu schließen – da gingen sie wieder an die Arbeit, denn sie fürchteten um ihre Existenz. Jetzt rächte sich, dass die Aufständischen keine Strukturen hatten, keine richtigen Anführer. Eigentlich hatten sie nur das West-Radio, vor allem den Berliner Rias, der berichtete und – willentlich oder nicht – die Protestbewegung lenkte. Doch auch der Rias konnte bei der Niederschlagung des Aufstandes nur zusehen.
Am 19. Juni war alles vorbei
Haben Sie damals vom Westen mehr erwartet? Wolfgang Balke überlegt. Dann sagt er: „Die Leute waren nicht dumm. Jeder wusste: Wenn die Amis eingreifen, dann gibt es eine globale Katastrophe.“
Ab dem 19. Juni ging die DDR wieder ihren sozialistischen Gang. Der Strom nach Westen nahm zu, das Spitzelheer der Stasi auch. Wolfgang Balke machte eine überraschende Karriere über den Betriebssport zum Sportlehrer, doch im Schuldienst wuchs der Druck auf ihn, sich im System zu engagieren. Nichts für ihn. 1957 floh er mit der S-Bahn nach Westberlin und weiter nach Duisburg. Wo er heute, 78, seine Erinnerungen schreibt. Und über den Tag im Juni, dessen Tragweite er damals so schwer begreifen konnte, sagt: „Es ist das Kernkapitel meines Lebens.“