An Rhein und Ruhr. Die Schüler des doppelten Jahrgangs feierten gerade ihren letzten Schultag vor den Osterferien. Jetzt geht das Büffeln für das Abitur los. Eltern einer Bürgerinitiative gegen G8 klagen darüber, dass das Zusammenleben mit ihren Kindern komplizierter geworden ist.
Der Unterricht ist vorbei, jetzt wird fürs Abitur gelernt! Gestern feierten die Schülerinnen und Schüler des NRW-Doppeljahrgangs ihren letzten Schultag. Viele G8-Schüler unter ihnen blicken mit gemischten Gefühlen auf ihre Schulzeit zurück. Das Turbo-Abitur ging zulasten ihrer Freizeit, die über Jahre extrem hohen Wochenstundenzahlen forderten ihren Tribut. Doch nicht nur Schüler rollen beim Stichwort G8 mit den Augen, auch – und gerade – Eltern sehen die Nachteile, die die verkürzte Schulzeit für die Persönlichkeitsentwicklung ihres Kindes und für die Familie insgesamt mit sich gebracht hat.
Michael Ehlen und Anja Nostadt machen sich seit Jahren in der landesweiten Bürgerinitiative familiengerechte Bildung und Schule (G-IB-8) für eine Rückkehr zum Abitur in 13 Schuljahren (G9) stark. Anja Nostadt ist nicht nur Mutter zweier Kinder, sondern auch Psychotherapeutin. Seit G8 in NRW eingeführt wurde, häufen sich bei ihr in der Praxis junge Patienten, die seelisch belastet sind. „Die Kinder kommen mit Einschlaf- oder Durchschlafstörungen, sie stehen unter extremem seelischen und körperlichen Druck“, sagt Anja Nostadt. „Viele Kinder schaffen die Schule nicht, ohne dass ihre Eltern sie umfassend betreuen.“ Doch das belaste die Eltern-Kind-Beziehung. „Es gibt immer noch eine zu hohe Masse an Inhalten und eine zu hohe Wochenstundenzahl. Das halten viele Kinder nicht aus.“
Hilfe bei den Klassenarbeiten
Ihr Eindruck ist nicht subjektiv, sondern wird durch Studien belegt. Die repräsentative Jako-o-Bildungsstudie kam im September 2012 zu folgenden Ergebnissen: 79 Prozent der befragten Eltern sind der Meinung, man sollte generell zum neunjährigen Gymnasium zurückkehren. Nur 17 Prozent sind für G8. 77 Prozent der Eltern helfen ihren Kindern, Klassenarbeiten und Referate vorzubereiten, 63 Prozent erarbeiten grundsätzlich gemeinsam mit ihrem Nachwuchs den Lernstoff. Und: Private Nachhilfe hat einen enormen Aufschwung genommen.
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Das Leben in vielen Familien hat sich durch die Arbeitsbelastung verändert. Jugendliche melden sich vom Musikunterricht ab, verzichten in Klausurphasen aufs Fußballtraining oder winken ab, wenn die Eltern gemeinsame Wochenendaktionen, wie etwa einen Ausflug in den Freizeitpark oder einen Spieleabend, vorschlagen. Vereine registrieren mit Sorge die sinkende Bereitschaft bei Jugendlichen, sich ehrenamtlich zu engagieren – und zwar aus Zeitgründen.
„Wir wollen eine Schule, die Zeit lässt für familiäre Begegnungen“
Das NRW-Schulministerium hat zwar im Jahr 2011 auf die Kritik reagiert und Gymnasien die Möglichkeit gegeben, zum Abitur nach 13 Jahren zurückzukehren. Doch es sind nur 13 Schulen in ganz NRW, die diese neue Möglichkeit in einem wissenschaftlich begleiteten Schulversuch anbieten, darunter das Gymnasium Borbeck in Essen, das Schalker Gymnasium in Gelsenkirchen und das Collegium Augustianum Gaesdonck in Goch.
Die Bürgerinitiative von Anja Nostadt, Michael Ehlen und ihren Mitstreitern macht sich dagegen dafür stark, dass alle Schulen im Land zu G9 zurückkehren oder zumindest Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 anbieten. In Hessen beispielsweise gibt es diese Wahlmöglichkeit ab dem Schuljahr 2013/14.
„Wir wollen eine Schule, die Zeit lässt für familiäre Begegnungen“, so Anja Nostadt. „Die Motivation der Kinder, etwas zu lernen, dürfe nicht durch Überbelastung erstickt werden. „Und wenn man bei G8 bleibt, müssen die Kernlehrpläne unbedingt überarbeitet und abgespeckt werden.“ Für Michael Ehlen ist „G8 von Anfang an eine gravierende gesamtgesellschaftliche Fehlentscheidung“ gewesen. Er ist zudem der Meinung, dass G8-Schüler „vielen Fachinhalten intellektuell und entwicklungsphysiologisch gar nicht gewachsen sind“, weil sie ein Jahr jünger sind als bisherige Jahrgänge.