Essen. Die Zahl der Verkehrsopfer ist 2011 wieder gestiegen, vor allem betroffen sind Kinder. 7064 sind im Jahr 2011 bei Unfällen verletzt worden. Rot-Grün fordert daher, Städte generell in Tempo-30-Zonen umzuwandeln. Verkehrspsychologen begrüßen den Vorstoß, als Vorbild könnte die Stadt Hamm dienen.

Der Junge mit dem Tretroller schafft knapp die grüne Phase der ersten Hälfte der befahrenen Stadtstraße. Die zweite Ampel zeigt Rot. Das Rot sieht der Zehnjährige nicht. Er stößt gegen einen Pkw, prallt ab. Ein nachfolgendes Auto erfasst und verletzt ihn schwer.

Was Freitagabend an der Mülheimer Straße im Duisburger Stadtteil Duissern Sache für den Notarzt wurde, ist gefährlicher Alltag im Rhein-Ruhr-Raum. Die Zahl der Kinder, die in Großstädten wie Essen, Oberhausen und eben Duisburg verunglücken, liegt über dem bundesweiten Schnitt, hat der Verkehrsclub Deutschland (VCD) in einem Vergleich von 76 Städten errechnet. Hier und da gibt es auch Hoffnungen auf eine Trendwende. Aber der Anlass zur ernsten Diskussion ist da.

Zahl der Verkehrsopfer steigt

Denn die Zahl der Verkehrsopfer überhaupt und auch im Kindesalter steigt nach einer langen Phase der Besserung wieder an. In Nordrhein-Westfalen sind 2011 nach Angaben des Landesinnenministers 7064 Kinder verletzt worden. 6064 waren es im Jahr davor. Bundesweit, so der VCD, mussten elf Prozent mehr Kinder Verletzungen im Straßenverkehr hinnehmen. Kinder sind damit die besonders Betroffenen dieser neuen und unguten Entwicklung, neben Lkw- und Motorradfahrern.

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Eine radikale Lösung für das Problem ist seit dem Wochenende als Forderung von grünen und sozialdemokratischen Politikern wieder auf dem Tisch: Runter vom Gas. Tempo 30 in allen Städten.

Der Süden ist sicherer

Maria Limbourg war lange Professorin für Verkehrspsychologie an der Uni Duisburg-Essen. Sie steht hinter den Vorschlägen. Nicht nur, weil die Bremswege der Fahrzeuge so viel kürzer sind. Sie sagt: „In Tempo-30-Zonen verringern Autofahrer wesentlich häufiger ihre Geschwindigkeit, wenn sie Kinder auf dem Gehweg sehen, als in Tempo-50-Straßen“. Warum das so ist? Ganz einfach, sagt Limbourg: „Kinder werden bei einer verringerten Geschwindigkeit eher wahrgenommen.“

Die Wissenschaftlerin liefert damit eine Erklärung für das Gefälle zwischen westdeutschen und süddeutschen Städten. Im Süden ist für Kinder das Leben als Verkehrsteilnehmer sicherer. „Im Süden“, sagt sie, „gibt es mehr Tempo-30-Zonen als bei uns und auch viele, die besser als solche zu erkennen sind. Die Straßen sind in den erhaltenen Stadtzentren enger. Da kann man gar nicht so schnell fahren wie bei uns, wo es viel mehr breite Straßen gibt und wo, wenn denn die Tempozone eingerichtet ist, oft nur einfach ein Schild dasteht“.

Kinder aus sozial instabilen Verhältnissen verunglücken öfter

Die Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Thema Kinder und Verkehr. Über die Ursachen für Unfälle gibt es viele unterschiedliche Erkenntnisse. Ein Experten-Team hat auf Basis von Daten des Robert Koch-Instituts für die Bundesanstalt für Straßen (Bast) ermittelt, dass Kinder aus sozial instabileren Schichten öfter zum Verkehrsopfer werden als ihre Altersgenossen aus besser dastehenden Familien. Ja, es komme gar auf den Typus des Kindes an: Der „ausgeglichene“ Typ sei mit einer Unfallbeteiligung von 0,5 Prozent sicherer unterwegs als der „ungezügelte“ mit einer Beteiligung von 1,6 Prozent – unabhängig vom Verschulden.

Soziale Verhältnisse und Charaktere zu ändern, ist eine langwierige Sache. Abhilfe kann wohl auch schneller geschaffen werden, sagt der Verkehrsclub Deutschland. Dafür guckt er ins westfälische Hamm.

Hamm ist eine Stadt von 182 000 Einwohnern zwischen Sauerland und Ruhrgebiet und zeigt gute Zahlen vor: Zwischen 2008 und 2011 starben nicht nur keine Kinder auf der Straße, seit 2007 sind die Verunglücktenzahlen bei Kindern um 6,2 Prozent und bei Jugendlichen um 3,4 Prozent zurückgegangen.

Das gute Beispiel Hamm

Die Stadt hatte sich Hilfe bei der „Stiftung für Kriminalprävention“ geholt und ein ganzes Paket von Verbesserungen vorgelegt. Nicht nur Straßen um die Schulen herum werden stärker überwacht, sondern auch der Bereich des Wohnumfeldes der jungen Leute. Nicht nur Tempo-Sünder werden mehr verfolgt, sondern auch Falschparker, „weil gerade für Kinder sichtbehinderndes Parken eine große Gefahrenquelle darstellt“. Ein Hammer Kind begleitet ein „K.i.d.S.“-Schein, in den alle Kurse der Verkehrserziehung eingetragen werden, die es auf seinem Weg vom Kindergarten bis zum Abschluss der Sekundarstufe I begleitet. Und die jüngste Überlegung ist ein richtiger Coup: Die Stadt verhandelt mit den Fahrschulen, ob „K.i.d.S“-Schein-Inhaber Rabatt auf die Fahrstunden bekommen.