Stade. Im Prozess gegen Martin N. ist jetzt das Urteil verkündet worden. Der in den Medien als “Maskenmann“ bezeichnete 41-Jährige soll über Jahre hinweg in Schullandheime, Häuser und Zeltlager eingedrungen zu sein, um Jungen zu missbrauchen. Drei seiner Opfer soll er ermordet haben. Er wurde zu lebenslanger Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

In einem der spektakulärsten Prozesse der deutschen Strafjustiz hat der 41 Jahre alte „Maskenmann“ Martin N. die Höchststrafe erhalten. An zuvor 13 Verhandlungstagen hatte die zweite große Strafkammer des Landgerichts Stade versucht, dem Pädagogen die Maske vom Gesicht zu reißen. Es bleiben Zweifel, ob der „Maskenmann“ vor Gericht ein Gesicht bekommen hat.

Als um 10.21 Uhr der Vorsitzende Richter Berend Appelkamp die lebenslange Haft für den Angeklagten, die besondere Schwere der Schuld und die anschließende Sicherungsverwahrung verkündet – ist von Angehörigen der Opfer auf den Zuschauerrängen des Schwurgerichtssaals ein Raunen der Erleichterung zu vernehmen. Martin N. dagegen sitzt regungslos auf der Anklagebank, auch wenn er in diesem Moment weiß, dass es sehr fraglich ist, ob er jemals wieder auf freien Fuß kommt. Der gebürtige Bremer, der beim Gang zu seinem Platz sein Gesicht mit einer rosafarbenen Aktenmappe verdeckt, wurde für zahlreiche Fälle sexuellen Missbrauchs an Jungen und die Ermordung von Stefan J. (13), Dennis Rostel (8) und Dennis K. (9) verurteilt.

Dennis Rostel, 1995 von Martin N. erwürgt, lebte in Lippstadt und wurde aus einem Zeltlager in Norddeutschland verschleppt. Sein Vater Michael (52) wollte bei der Urteilsverkündung dabei sein und versuchen, wie beim Prozessauftakt und am Tag seiner Zeugenaussage, Blickkontakt zu dem Mann aufzunehmen, der ihm seinen „Jungen, der mir so unendlich fehlt“, genommen hat. Doch der vom Leben nicht verwöhnte Westfale, der vor vielen Jahren ein Bein bei einem Mofaunfall verlor, musste aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig passen.

Martin N. vermeidet jeglichen Blickkontakt zu den Angehörigen

Auch während der Verhandlung vermeidet Martin N. jeglichen Blickkontakt zu den Angehörigen der drei toten Jungen und zu einem Opfer von sexuellem Missbrauch, die als Nebenkläger auftreten. „Er hat an jedem Verhandlungstag ein Loch in den Tisch geguckt“, sagt Rostels Anwalt Johannes Giebeler. Auch die Beobachter auf den 32 Zuschauerplätzen und die zahlreichen Medienvertreter sehen letztlich kein Gesicht, sondern - auch ohne Sturmhaube oder Maske wie bei den Taten - eine undurchdringliche Maske. Nicht nur, weil Martin N. nach seiner Festnahme einen Rauschebart trägt.

Die Zuhörer werden auf eine harte Probe gestellt, als Richter Appelkamp mit ruhiger Stimme noch einmal Details der Taten des Pädophilen wiedergibt. Für das Gericht steht das Mordmerkmal fest: Verdeckungsabsicht. Martin N. habe den sexuellen Missbrauch vertuschen wollen (im Fall Dennis Rostel kommt noch Heimtücke hinzu).

Dann spricht der Jurist den „Maskenmann“, dem eine besonders hohe Rückfallgefahr attestiert wird, noch direkt an. Zum einzigen Mal schaut Martin N. hoch. „Ihnen steht ein neuer, langer Weg in Ihrem Leben bevor.“ Und: „Sie sind und bleiben immer ein Mensch.“ Das an einem Verhandlungstag gefallene Wort „Kreatur“ habe in einem Gerichtssaal nichts zu suchen, mahnt Appelkamp.

Anwalt: „Mehr konnte nicht erreicht werden.“

Die Schlussworte des Richters gehen an die Angehörigen der toten Jungen: Er hoffe, dass sie mit dem Urteil ein gewisses Maß an Abschluss und Ruhe finden. Appelkamps Stimme wird merklich leiser. „Es ist sehr, sehr traurig“, sagt er und fixiert mit seinen Augen einen Moment die Nebenklagebänke. „Sie haben sich für Ihre Kinder sehr eingesetzt.“

Martin N. im Landgericht Stade. Archiv-Foto: dapd
Martin N. im Landgericht Stade. Archiv-Foto: dapd

Anwalt Johannes Giebeler hat nach dem Urteil Michael Rostel angerufen und ihm berichtet, dass seine Erwartungen erfüllt wurden: „Mehr konnte nicht erreicht werden.“ Für eine Aufarbeitung des Todes des blonden Dennis freilich reicht es nicht. Dafür blieben zu viele Fragen zum Tatverlauf offen – und zu möglichen weiteren Taten des 41-Jährigen. Bislang verweigert Martin N. die Bekanntgabe des Passwortes seiner Festplatte, die in der Dunstabzugshaube seiner Wohnung gefunden wurde. Bis zu 64 Zeichen könnte das Passwort enthalten, es könnte 10 bis 15 Jahre dauern, bis der Code geknackt wird, so Giebeler. Die „Soko Dennis“ arbeitet weiter an dem Fall „Maskenmann“.

Am letzten Prozesstag vor dem Urteilsspruch hatte Martin N. doch noch sein Schweigen gebrochen und bei seinen Schlussworten den Familien der Opfer gewünscht, dass sie Genugtuung bekommen und zur Ruhe finden. Für Dennis R.s Vater Michael klang das wie blanker Hohn. Er muss immer wieder an diesen einen Satz aus dem Vernehmungsprotokoll nach der Festnahme des „Maskenmannes“ denken, in dem der ehemalige Jugendbetreuer die Tage in einem Ferienhaus in Dänemark nach dem Verschleppen des damals acht Jahre alten Jungen aus Lippstadt aus einem Zeltlager in Schleswig beschreibt: „Wir haben Ausflüge gemacht, haben Eis gegessen und wie Vater und Sohn gelebt.“ Genau das, was Michael R. selbst gerne mit seinem Sohn getan hätte – das Jugendamt hatte ihm wegen einer falschen Verdächtigung die Kinder weggenommen. Nach Dennis’ Tod hielt die Polizei den heute 52-jährigen Westfalen zunächst für den Täter.

Anwalt Giebeler und Michael Rostel wollen ein Buch über den „Fall Maskenmann“ schreiben. Eine Form der Verarbeitung. Und doch: Die Taten des „Maskenmannes“ bleiben auch nach dem Prozess ein Buch mit sieben Siegeln.