Ruhrgebiet. . Etwa 200.000 Menschen im Ruhrgebiet leben an zu lauten Straßen. Einige gründen Initiativen, andere hören den Lärm gar nicht mehr.

Also, Edelgard Droste* kann nicht meckern. Sie hört das nämlich gar nicht mehr. Dorstener Straße, Ecke Robertstraße in Bochum, Autos, Laster, Straßenbahnen, Gleise, viel lauter kann man nicht wohnen. Doch woran die 60-Jährige sich mit Hilfe extrastarker Fenster gewöhnt hat, das ist für ihre Gäste weiterhin eine Qual.

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„Wenn meine Freundin aus dem Sauerland kommt, legt sie sich abends ins Schlafzimmer, und ich schlaf’ vorne raus,“ sagt Edeltraud Droste: „Aber hinten wird sie von dem Zug wach, der vorbeifährt. Den höre ich auch nicht mehr.“

Lärm ist subjektiv

Nach Schätzungen leben 150.000 bis 200.000 Menschen im Ruhrgebiet in einer Umgebung, die ständig zu laut ist. Aber Proteste gibt es wenig: Speziell Initiativen gegen Straßenlärm muss man suchen. Da fängt’s nämlich schon an: Lärm ist subjektiv.

Des einen Blaskapelle ist des anderen Höllenlärm. Kurt Tucholsky hat es so gesagt: „Lärm ist das Geräusch der anderen.“ Man kann ihn zu objektivieren versuchen über Dezibel. Die Landesregierung sieht „Handlungsbedarf“ bei Menschen, die tagsüber dauerhaft von über 70 Dezibel umgeben sind und nachts von über 60. Wie an vielen großen Straßen im Ruhrgebiet.

Initiative gegen Raserei

Peter Fette zieht jetzt fort. Er hat einen dicken Aktenordner mitgebracht in den „Ratskeller“ von Duisburg-Hamborn: „Da steckt ein sechsjähriger Kampf drin“, sagt Fette und gibt den Ordner weiter an den Vorstand der „Initiative gegen Raserei auf der B 8“. Die B 8 ist eine schnurgerade, vierspurige Rennstrecke und wird einschließlich der Wohnstraßen links und rechts genau dafür genutzt: für Autorennen.

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„Auf zwei Reifen um den Kreisverkehr,“ sagt Oswin Rautenberg, der hier wohnt. Erst seit Herbst 2014, seit die Lärmgeplagten nicht mehr als Einzelkämpfer auftreten, sondern als Initiative, reagiere die Stadt. Tempo 30 soll kommen und Blitzer. Vielleicht traut sich dann auch die Wirtin aus dem Ratskeller wieder, über die B 8 heimzufahren. Sie meidet das jetzt: „Sie werden links und rechts überholt, da kriegen Sie Angst.“

„Immer zu laut, wie Weltkrieg“

Die Landesregierung spricht von etwa 650.000 Menschen, deren Umgebungslärm sie krank machen könnte. Ohren, Magen, Herz, Kreislauf. Ihnen kann geholfen werden: mit Schwellen und Verengungen, Flüsterasphalt und Lkw-Steuerung, Tempo 30, intelligentem Nahverkehr. So steht es in den „Lärmaktionsplänen“ vieler Ruhrgebietsstädte. Der Haken: Es dauert. Vieles davon wird erst gemacht, wenn die Stadt eine Straße eh flächendeckend aufreißt – im Zweifelsfall kann es darüber auch 2025 werden.

An der Huckarder Straße in Essen tut sich was. Da wohnen die Menschen praktisch an der A 40, fünf Meter waren es von den Fassaden bis zur niedrigen Schallschutzwand. „Immer zu laut, wie Weltkrieg“, sagt Valerij Rogalski. Damit es künftig leiser wird, musste es erst noch lauter werden: Die kleinen Schallschutzwände sind abgerissen, doppelt so hohe entstehen gerade. Danach, verspricht „Straßen NRW“, würden Dezibel-Werte von bis zu 80 sinken auf gut 60 – und damit unter den Grenzwert für Erkrankungsrisiko. 60 ist die Lautstärke eines Gesprächs unter Erwachsenen.

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Mutter aller zugestauten Ausfallstraßen

Es bleibt viel davon zu tun, denn zu laute Straßen gibt es überall. Die B 224 in Essen, Mutter aller zugestauten Ausfallstraßen. Der Borsigplatz in Dortmund, verkehrsdurchtost, sternförmig gehen Straßen von ihm ab. Die Hoffsche Straße in Duisburg, die sich links und rechts um die A 42 windet: Ein unaufhörlicher Strom von Lastern poltert in sie hinein. Die Wattenscheider Straße in Bochum, eine dieser typischen Ausfallstraßen des Ruhrgebiets: Sie verspricht das Blaue vom Himmel und endet doch nur im nächsten Zentrum.

Eng, dicht bebaut, Straßenbahnschienen, bremsen und anfahren, bremsen und anfahren – und eine beliebte Umfahrungsstrecke von A 40-Staus ist sie auch noch. Ja, sie entspricht dem Muster, ist an beiden Seiten bebaut – wo soll der Lärm da hin? Der kann nicht nur krank machen, sondern auch arm: Kaufpreise und Mieten sind niedriger an lauten Straßen, Mieter wechseln häufiger, der Leerstand ist größer.

Man kann auch krank werden durch Lärm, an den man sich gewöhnt hat

Gewöhnung? Die Lärmforschung sagt dazu: Man kann auch krank werden durch Lärm, an den man sich gewöhnt hat, etwa in der Disco. Ob das aber auch gilt für Umweltlärm, ist nicht so richtig klar. Denn so viele Betroffene reden wie Edeltraud Droste, die das nicht mehr hört.

„Man gewöhnt sich dran“, sagt also auch noch Gisela Schimkat, im weiteren Sinne eine Nachbarin von ihr. Wenn ein Kunde im Bestattungsinstitut sei, müsse man natürlich das Fenster schließen, um zu reden. Aber sonst? „Was wollen Sie machen?“, sagt Gisela Schimkat eher rhetorisch: „Die Autos müssen ja da durchfahren.“

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