Düsseldorf. Hagens Kämmerer Christoph Gerbersmann (CDU) erklärt am Beispiel seiner Stadt, wie dicht viele Kommunen vor der Pleite stehen.
Der Bund und NRW stellen verarmten Städten eine Entschuldung in Aussicht, aber sie liefern nicht. Über die Konsequenzen sprach der Sprecher des Bündnisses „Für die Würde unserer Städte“, Hagens Kämmerer Christoph Gerbersmann (CDU), mit Matthias Korfmann.
Herr Gerbersmann, die Bundes- und die NRW-Regierung stellen in ihren Koalitionsverträgen eine Altschuldenlösung in Aussicht. Beide spielen aber ein Spiel: Wer sich zuerst bewegt, verliert. Wann muss sich einer bewegen?
Christoph Gerbersmann: 2023 ist ein Schicksalsjahr. Wenn es nicht gelingt, jetzt eine Lösung zu finden, die im nächsten Jahr wirkt, dann fehlt mir die Fantasie, wie die hoch verschuldeten Städte im Jahr 2024 Haushalte aufstellen sollen. Und selbst, wenn eine Lösung gelingen sollte, ist es nicht sicher, ob sie lange trägt, denn die Kosten steigen weiter.
Warum ist der Zeitdruck so groß?
Gerbersmann: Weil die Zinsen so stark steigen. Wir haben in Hagen vorgesorgt und immer die maximal zulässige Zinsbindung gewählt, aber selbst hier werden wir – Stand heute – 2026 etwa zehn Millionen Euro mehr Zinsen zahlen als im vergangenen Jahr.
Sie sind seit 2005 Kämmerer. Wie war die Lage damals?
Gerbersmann: Fatal. Um die Jahrtausendwende kam Hagen finanziell noch einigermaßen über die Runden. Dann kam eine Wirtschaftskrise, und es ging steil bergab: Die Sozialkosten stiegen, die Einnahmen sanken. In der Spitze hatten wir in Hagen 1,25 Milliarden Euro Kassenkredite, und konnten kaum noch investieren. Es ist ein Märchen, dass wir damals Geld verprasst hätten. Wir mussten und müssen eisern sparen. (Anm. der Red.: Ein Kassenkredit ähnelt einem „Überziehungskredit“ – Dispo -- für Privathaushalte. Die Städte finanzieren damit laufende Ausgaben)
Was bleibt auf der Strecke?
Gerbersmann: Es fehlen zum Beispiel Kindergartenplätze für unter Dreijährige. Der Ausbau des Offenen Ganztags hält nicht mit der Zuwanderung Schritt, obwohl der Bund 2026 einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung einführt. Wir haben auch Probleme, Schulraum für die zugewanderten Kinder zu schaffen. Für die Ausstattung der Schulen mit Computern gibt es zwar Förderprogramme, aber es fehlen Fachkräfte in der Stadtverwaltung dafür, weil unter dem Schuldendruck Personal abgebaut werden musste. Wir sind inzwischen so arm, dass uns das Geld für den Löffel fehlt, wenn es Brei regnet. An zusätzliche Investitionen, zum Beispiel in die energetische Sanierung unserer Gebäude oder in neue Schulen ist mit dieser Schuldenlast und dieser dünnen Personaldecke nicht zu denken.
Wie wirkt sich die Zuwanderung aus?
Gerbersmann: Es fehlen Plätze für die Unterbringung der Geflüchteten. Für die Integration dieser Menschen benötigen wir viel mehr Personal, das wir uns aber nicht leisten können. Es gibt noch ein anderes Problem, über das kaum jemand spricht: Neben den Menschen aus der Ukraine, Syrien und anderen Ländern außerhalb der EU kamen in den vergangenen Jahren rund 7000 Menschen aus den EU-Ländern Rumänien und Bulgarien nach Hagen. Diese Menschen werden aber nie gezählt, wenn es um Hilfe für die Städte geht, denn da geht es immer nur um Flüchtlingskosten. Die Zugewanderten aus Südosteuropa strömen in erster Linie nicht in den Arbeitsmarkt, sondern in die Sozialsysteme, und ihre Kinder besuchen unsere Schulen. Ich sage mit voller Überzeugung, dass die Arbeitnehmer-Freizügigkeit in der EU eine große Errungenschaft ist. Aber wir als Stadt können uns das nicht leisten, und die EU und der Bund lassen uns mit der Armutszuwanderung aus der EU allein. Die Freizügigkeit war nicht so gedacht, dass Menschen, die in ihren Ländern 250 Euro im Monat verdienen, Zugang zu den hiesigen Sozialsystemen haben.
Wir müssten den zugewanderten Kindern, von denen viele nicht Deutsch sprechen, helfen und sie intensiv betreuen. Das schaffen die stark belasteten Lehrkräfte nicht, und wir können uns keine zusätzlichen Sozialpädagogen leisten. Zuwanderung ist eigentlich eine große Chance für eine Stadt. Aber dafür braucht man Geld. Wir müssten eine neue Gesamtschule, eine Haupt-, eine Realschule und mehrere Grundschulen bauen. Aber womit?
Wie ist die Verschuldung mit Kassenkrediten in Hagen aktuell?
Gerbersmann: Wir haben zuletzt die Schulden deutlich abgebaut und derzeit noch rund 870 Millionen Euro Kassenkredite.
Die Zinsen waren jahrelang niedrig, die Einnahmen stiegen. Wäre da nicht mehr drin gewesen?
Gerbersmann: Nein, denn gleichzeitig stiegen die Kosten fürs Soziale stark.
Geht es den Städten nicht finanziell besser als dem Land und dem Bund?
Gerbersmann: Stimmt, aber da reden wir nur über einen Mittelwert. Wenn ich in der Mitte stehe, und die eine Hand liegt auf der heißen Herdplatte, die andere steckt im Eiswasser, fühle ich mich dennoch unwohl. Wir reden hier über Städte, die finanziell abgehängt sind, und das schlägt auf über acht Millionen Einwohner dort durch.
Glauben Sie wirklich, dass Länder, in denen es keine hoch verschuldeten Städte gibt, im Bundesrat einer Altschuldenlösung zustimmen?
Gerbersmann: In Bayern und Baden-Württemberg haben Kommunen keine vergleichbaren Herausforderungen mit Zuwanderung und Strukturwandel. Das ist eine Frage der Solidarität, und die hat es früher auch schon gegeben. Gut 20 Prozent der Hagener Kassenkredite sind durch den Ost-Soli entstanden. Diese Solidarität war richtig, aber falsch organisiert, denn es mussten im Westen Städte den Soli zahlen, die sich selbst in einer prekären Lage befanden. Noch ein Beispiel: Durch Hagen führt eine Amprion-Hochspannungsleitung. Wir brauchen die nicht, aber Bayern braucht sie, damit demnächst Wind-Strom von der Nordsee nach Süden fließen kann.
Hessen, Saarland und Rheinland-Pfalz haben Entschuldungsprogramme für Städte aufgelegt. Sollte NRW dies auch tun?
Gerbersmann: NRW muss das tun, und zwar auch unabhängig von der Frage, ob sich der Bund beteiligt. NRW ist für die eigenen Kommunen zuständig und trägt eine Mitverantwortung.
Würden die Städte Bedingungen akzeptieren, damit sie nicht wieder in die Miesen rutschen?
Gerbersmann: Das ist unstrittig in unserem Bündnis. Es muss solche Regeln geben, und wir werden unseren Beitrag leisten. Aber Bund und Land müssen ihrerseits akzeptieren, dass sie die Musik, die sie bestellen, selbst bezahlen müssen. Beispiel: Rechtsanspruch auf Ganztag.
Info: Das „Würde“-Bündnis
Das Bündnis „Für die Würde unserer Städte“ ist ein Zusammenschluss von 64 verschuldeten Städten aus sieben Ländern mit insgesamt 8,5 Millionen Einwohnern. Dazu gehören im Ruhrgebiet Hagen, Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Oberhausen, Gelsenkirchen, Mülheim, Hattingen, Bottrop, Witten, Herne, Gladbeck, Witten, Castrop-Rauxel, Hamm sowie die Kreise Recklinghausen, Unna, Wesel und der Ennepe-Ruhr-Kreis.
Im NRW-Koalitionsvertrag zwischen CDU und Grünen von 2022 steht: „Die vom Bund angekündigte einmalige gemeinsame Kraftanstrengung zur Entlastung der Kommunen von ihren Altschulden muss unmittelbar erfolgen. Zu diesem Zweck werden wir noch in diesem Jahr mit dem Bund eine Lösung für NRW vereinbaren. Sollte der Bund seiner Verantwortung nicht nachkommen, bekennen wir uns dazu, im kommenden Jahr selbst eine Lösung herzustellen.“