Düsseldorf. Die Polizei zählte 2022 in NRW mehr Straftaten als in den Jahren davor. Die Vermutung, es liege am Ende von Corona, greift zu kurz.

Herbert Reul (CDU) wirkte zerknirscht. Im vergangenen Jahr konnte der Innenminister stolz verkünden, dass die Straßen in NRW so sicher seien wie seit den 1980-er Jahren nicht mehr. Die Polizeiliche Kriminalstatistik, die Reul am Dienstag für 2022 vorstellte, ist aber ein Rückfall in schlimmere Zeiten: Die Deliktzahlen sind auf einmal wieder so hoch wie zu Beginn seiner Amtszeit vor etwa sechs Jahren.

Schönfärben helfe nicht, Schwarzmalerei auch nicht. „Wir müssen uns fragen, wieso die Zahlen so sind, wie sie sind“, sinnierte der Minister. Seine Bilanz: ein sattes Plus bei Diebstahl und Raub, mehr Mord und Totschlag, mehr gewalttätige Jugendliche und immer mehr Rettungskräfte, die selbst gerettet werden müssen. Ein Überblick über die größten Probleme:

Diebstahl und Raub

Geklaute Handys und Geldbörsen, aber auch immer mehr gestohlene Autos und Autoteile: Diebstahl sei das „Hauptproblem“, weil dieses Delikt etwa jede dritte Straftat ausmache, so Reul. 23 Prozent mehr Fälle stehen in der Kriminalstatistik, insgesamt waren es rund 480.000. „2022 ist das Leben nach den Corona-Einschränkungen wieder auf die Straße zurückgekehrt und damit auch die Tatgelegenheiten, auf die die Diebe lauern“, erklärte der Minister. Rund 11.000 Raub-Delikte zählte die Polizei – ein Anstieg um 37 Prozent.

Mord und Totschlag

380 Fälle wurden hier erfasst, das sind 72 mehr als im Vorjahr. In 294 dieser Fälle blieb es beim Versuch. Die Aufklärungsquote lag bei 94 Prozent.

Körperverletzung

„Warum ist die Zündschnur so viel kürzer geworden?“ Herbert Reul vermutet das veränderte Klima in der Gesellschaft dahinter. Der Ton werde immer schroffer, schon in der Schlange im Supermarkt. „Dann wird die Mücke schneller zum Elefanten, als man gucken kann.“ In Zahlen: 142.000 Taten und damit 24 Prozent mehr.

Kinder- und Jugendkriminalität

„Dieses Feld müssen wir stärker beackern“, heißt es in der Landesregierung. Die Zahlen lieferten den Beweis dafür, „dass die Pandemie unsere Kinder verändert hat“. Zwei Jahre seien im Leben eines Kindes oder Jugendlichen eine lange Zeit. Die Corona-Isolation habe viele Jüngere emotionaler und gewalttätiger gemacht.

Die Statistik dazu: Es gab 2022 mehr Fälle als im Jahr davor (36.751, vorher: 34.924). Jeder fünfte Tatverdächtige in NRW war im vergangenen Jahr 20 Jahre oder jünger. In und an Schulen verdoppelten sich die Straftaten auf 9030 Fälle. Besonders oft ging es hier um Körperverletzung und Diebstähle.

Häusliche Gewalt

Die Zahl der Fälle steigt seit sechs Jahren auf zuletzt rund 34.000. Reul beschrieb es so: Zuhause sei „mehr Gewalt eingezogen“.

Angriffe auf die Staatsgewalt

Hier verzeichnet die Statistik sogar ein Zehnjahreshoch. 9600-mal wurden Polizistinnen und Polizisten, Rettungsdienst-Kräfte und Feuerwehrleute attackiert. Die Hemmschwelle, Uniformierte anzugreifen, sinke immer mehr, sagte Reul. Da sei „etwas Grundsätzliches ins Wanken geraten“. Haltung, Wertschätzung und Respekt blieben auf der Strecke.

Tatort Internet

Die Zahl der Straftaten stieg hier um rund 17.000 auf etwa 96.000. Hinter diesen Taten steckten zum Beispiel „Ebay-Betrug“, der Online-Verkauf von gestohlenen Waren, aber auch Angriffe auf die Webseiten von Flughäfen. Reul: „Weil wir ganz viel Lebenswelt ins Digitale verlagert haben, machen wir es den Kriminellen besonders einfach.“

Automatensprenger

182 gesprengte Geldautomaten zählte die Polizei im Jahr 2022 – ein Plus von fast 20 Prozent. Es gebe aber seit einigen Monaten einen „vorsichtigen Trend“ zum Besseren. Die Betreiber der Automaten rüsteten auf.

Warum ist die Bilanz insgesamt so schlecht?

Reul nannte fünf Grüne: Erstens die „Rückkehr zur Normalität“ nach Corona. Zweitens ein „Pendel-Effekt“, ebenfalls pandemiebedingt. Was vorher nicht ging, sei 2022 nachgeholt worden nach dem Motto: „Exzessiver, wilder, noch mehr davon“. Drittens verunsichere der „Dauer-Krisenmodus“ --- Pandemie, Kriegsangst, Inflation -- die Menschen. Viertens der Frust der in der Pandemie eingesperrten Kinder und Jugendlichen. Schließlich würden auch immer mehr Delikte angezeigt. Fast jede fünfte Anzeige ging laut Reul zuletzt online ein.

Wie wird die Statistik außerhalb der Regierung bewertet?

Michael Mertens, NRW-Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), forderte eine „strategische Neuausrichtung“ der Polizei mit mehr Personal, mehr Präsenz auf der Straße und neuen Prioritäten.

Die Statistik müsse für die Landesregierung ein „Weckruf“ sein, sagte SPD-Innenexpertin Christina Kampmann. Reul müsse den negativen Trend schnell wieder umkehren.