Essen/Düsseldorf. Der Abstand zwischen Schulen in armen und in reichen Vierteln wird beim Abitur größer. Experten fordern Korrekturen bei der „sozialen Spreizung“.

Rund 70.000 Schülerinnen und Schüler in NRW bereiten sich derzeit auf die schriftlichen Abiturprüfungen vor, die ab dem 19. April beginnen. Doch die Chancen, es bis dahin zu schaffen, sind je nach Wohnort ungleich. So verließen nach Angaben des Landesstatistikamtes in Mülheim im Jahr 2021 fast 47 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Schule mit dem Abiturzeugnis, in Gelsenkirchen hingegen nur gut 29 Prozent. Hier sackte die Quote gegenüber dem Vorjahr (33,7 Prozent) sogar ab.

Auch Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund und Herne ging die Zahl der Jugendlichen, die die Schule mit dem Abitur beendeten, zurück. NRW-weit erreichten zuletzt 39,5 Prozent der Schüler das Abi, im Ruhrgebiet 38,2 Prozent.

Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bildungschancen fordern Wissenschaftler, Lehrerverbände und Oppositionspolitiker von der Landespolitik mehr Unterstützung für Schulen in sozialen Brennpunkten sowie für finanzschwache Kommunen. Der Bochumer Sozialwissenschaftler Prof. Jörg-Peter Schräpler spricht von einer „kollektiven Benachteiligung“ junger Menschen, die in sozial schwierigen Stadtvierteln leben. Die soziale Spreizung sei hinsichtlich der Schulleistungen gerade in den Großstädten des Ruhrgebiets ein Problem.

„Bildungschancen nach Postleitzahl“

Nötig seien mehr Ressourcen für Schulen in herausfordernden Lagen sowie ein Ausbau von gebundenen Ganztagsschulen. „Studien zeigen, dass Ganztagsschulen insbesondere Kindern aus einkommensschwächeren Familien und Familien mit Migrationshintergrund bessere Teilhabechancen bieten“, sagte Schräpler dieser Redaktion.

„Es kann nicht sein, dass die Bildungschancen von der Postleitzahl abhängen“, sagte Ayla Celik, Chefin der Bildungsgewerkschaft GEW in NRW. „Soziale Ungleichheit und fehlende materielle und finanzielle Ausstattung begründen die ungleichen Startbedingungen und führen zu ungleichen Bildungschancen.“ Celik forderte einen verbesserten „schulscharfen Sozialindex“.

Mehr Stellen für Brennpunktschulen

Delik Engin, Schulexpertin der SPD im Landtag, schloss sich der Forderung an. Zugleich müssten arme Kommunen von Bund und Land stärker unterstützt werden. „Die lokale Kassenlage darf sich nicht negativ auf die Chancengleichheit unserer Kinder auswirken.“

Marcel Hafke (FDP) verwies auf den IQB-Bildungstrend, der in der Grundschule Defizite in den Kernfächern aufgezeigt hat. Um soziale Ungleichheiten zu mildern, forderte er mehr Talentschulen, mehr Kitaplätze und eine Stärkung der frühkindlichen Bildung.

„Nicht alle Schülerinnen und Schüler müssen Abitur machen, aber alle müssen die Chance haben, Abitur machen zu können“, heißt es aus dem NRW-Schulministerium. Die Landesregierung folge dem Grundsatz, Ungleiches ungleich zu behandeln. Einen wichtigen Beitrag hierzu leiste der Schulsozialindex. Zum laufenden Schuljahr seien den Schulen fast 6.000 Stellen über den Index zugewiesen worden.

Abitur entscheidet über Bildungswege

Für die Jugendlichen ist das Abitur die erste große Prüfung, die für den weiteren Lebens- und Bildungsweg entscheidend wird. Allerdings sind in sozial schwierigen Vierteln sind die Chancen auf ein Abitur viel schlechter als in bürgerlichen.

Landesweit beträgt die Abiturientenquote 2021 laut Landesstatistikamt 39,5 Prozent. Das ist der Anteil der Schulabgänger, die im Sommer die Schule mit einem Abiturzeugnis verlassen. Im Ruhrgebiet waren es 38,2 Prozent. Dabei ist die Spannbreite groß (siehe Grafik). So liegen Mülheim (46,9 %), Düsseldorf (42,8 %), oder Essen (41,7 %) über dem NRW-Schnitt. Hingegen schneiden Dortmund (37,3 %), Bottrop (35,6 %), oder Gelsenkirchen (29,2 %) klar schlechter ab. Sozialwissenschaftler sehen die Ursachen in der Finanzkraft der Städte, der Lage der Schulen und dem Bildungshintergrund der Eltern.

Schon in den vergangenen Jahren war eine deutliche Spreizung bei den Abi-Quoten zu erkennen. Inzwischen wurden Talentschulen und ein schulscharfer Sozialindex für besonders belastete Schulen erfunden, doch an den Zahlen lassen sich keine Verbesserungen erkennen. Im Gegenteil: Der Abstand zwischen wohlhabenden Städten wie Münster oder Düsseldorf und ärmeren Städten wird immer größer. Alarmieren sollte die Politik, dass auch in den ohnehin schwächer abschneidenden Kommunen die Abi-Quoten weiter gesunken sind.

Krasse Unterschiede bei Übergängen aufs Gymnasium

„Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass die schulische Bildungsbeteiligung sozialräumlich ungleich ist“, sagt der Bochumer Sozialwissenschaftler Jörg-Peter Schräpler, der mit seinen Mitarbeitern im Auftrag der früheren CDU/FDP-Landesregierung den Sozialindex für Schulen erarbeitet hatte. „Der Anteil der Schülerinnen und Schüler eines Stadtteils, die eine höhere weiterführende Schule wie das Gymnasium besuchen, steht im engen Zusammenhang mit der Sozialstruktur eines Stadtteils“, so Schräpler. Dabei ist der Sprung an ein Gymnasium für den Bildungserfolg entscheidend. 63 Prozent der Abiturienten machen ihren Abschluss am Gymnasium, nur etwa 23 Prozent an einer Gesamtschule, etwa zehn Prozent kommen vom Berufskolleg.

Kleinräumige Analysen der Bochumer Wissenschaftler ergeben, dass die Übergangsquoten von der Grundschule an ein Gymnasium je nach Stadtviertel extrem schwanken. Im wohlhabenden Essener Süden wechseln bis zu 90 Prozent der Grundschüler an ein Gymnasium, also fast jeder. In manchen nördlichen Stadtteilen sind es hingegen nur 18 Prozent. In Dortmund variiert die Übergangsquote je nach Viertel zwischen 20 und 82 Prozent, in Bochum zwischen 25 und 73 Prozent. In Gelsenkirchen nur zwischen 17 und 40 Prozent. „Auch in den besseren Stadtteilen kommt Gelsenkirchen nicht auf hohe Übergangsquoten“, erklärt Schräpler. Insgesamt zeigten die Zahlen, die „kollektive Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern“ in den abgehängten Vierteln im Ruhrgebiet.

Soziale Ungleichheit

„Ich sehe in den Abiturquoten vor allem ein soziales Problem“, sagt Gabriele Bellenberg, Professorin für Schulforschung und Pädagogik an der Ruhr-Uni Bochum. Dabei sei auch die ungleich verteilte Zuwanderung ein Problem. „Gelsenkirchen müsste eigentlich laufend neue Schulen gründen, um die Zahlen zu bewältigen.“

Kann das Land besser gegensteuern? Der Sozialindex müsse nachgeschärft und mit Personal unterfüttert werden, sagt Ayla Celik, GEW-Vorsitzende in NRW. Die Notwendigkeit kleinerer Klassen und zusätzlicher Lehrer in Brennpunktklassen werde aber durch Lehrermangel torpediert. Auswege sind Abordnungen von Lehrkräften, mehr Quereinsteiger sowie die Angleichung der Gehälter, meint Bildungsforscher Schräpler.

Zudem benötigten gerade ärmere Kommunen mehr Geld vom Land, etwa für zusätzliche Räume, für einen Mittagstisch, Ganztagsbetreuung, eine bessere Schulausstattung, Sozialarbeiter und Hausaufgabenhilfen. „Das kann eine Stadt wie Gelsenkirchen allein nicht stemmen“, meint Schräpler.

Maßnahmen der Landesregierung

Insgesamt sei aber eine Spreizung bei den Abschlüssen zu beobachten, sagt Forscherin Bellenberg. „Vor allem der Anteil der einfachen Hauptschulabschlüsse hat zugenommen.“ Die würden häufig erst am Berufskolleg vergeben. Schräpler stimmt ihr zu. Besorgt beobachte er eine steigende Zahl von Schülerinnen und Schülern, die ihre Schule ohne Abschluss verlassen. „Das ist das größte Problem im Ruhrgebiet.“

Das NRW-Schulministerium betont, es stärke diejenigen Schulen gezielt, die vor den größten Herausforderungen stehen. Einen wichtigen Beitrag leiste der Schulsozialindex. Darüber hinaus unternehme die Regierung erhebliche weitere Anstrengungen, um die Bildungschancen zu verbessern. Sie nennt den Schulversuch „Talentschulen“ (40 im Ruhrgebiet). Darüber hinaus gibt es die Schüler-Stipendienprogramme „NRWTalente“ und „RuhrTalente“, das „TalentKolleg Ruhr“ sowie die Familiengrundschulzentren. Diese Zentren sollen „in die Fläche gebracht“ werden.

>>>> Mehr Abiturienten starten Berufsausbildung

Laut der Bertelsmann-Stiftung tun sich junge Menschen mit Hauptschulabschluss immer schwerer, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Gleichzeitig stieg der Anteil der Abiturienten, die eine Ausbildung anfingen, deutlich.

Zwischen 2011 und 2021 verringerte sich der Anteil der Jugendlichen, die mit Hauptschulabschluss eine Lehre anfingen, um ein Fünftel. Der Anteil der Abiturienten, die sich für eine Lehre entschieden, stieg dagegen von 35 auf 47,4 Prozent.