Düsseldorf. Die belgische Regierung lässt zwei Meiler zehn Jahre länger laufen. Das befeuert auch die Energiedebatte in Düsseldorf – und löst Ängste aus.
Die Verschiebung des belgischen Atomausstiegs um zehn Jahre hat insbesondere die NRW-Politik am Wochenende kalt erwischt. Grünen-Landeschefin Mona Neubaur sprach gegenüber der „Neuen Westfälischen“ von einer „brandgefährlichen Entscheidung“ und forderte Ministerpräsident Henrik Wüst (CDU) zum Handeln auf.
Der NRW-Regierungschef dürfte jedoch um seine Machtlosigkeit in dieser Frage wissen. Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) ließ deshalb eilig Respekt bekunden vor der „souveränen Entscheidung jedes Staates, wie er seinen Strombedarf decken will“, forderte aber zugleich die Beachtung von Sicherheitsanforderungen und der Belange der europäischen Nachbarn ein.
Sogar die belgischen Grünen haben eingelenkt
Der belgische Premierminister Alexander de Croo hatte am Freitagabend eine Laufzeitverlängerung der Atommeiler Tihange 3 und Doel 4 bis mindestens Ende 2035 bekannt gegeben. Begründet wurde der Schritt mit dem Ukraine-Krieg und der europäischen Energieabhängigkeit vom Kriegstreiber Russland. Die übergangsweise als Atom-Ersatz gedachten Gaskraftwerke werden angesichts der Weltlage immer unattraktiver. Selbst die belgischen Grünen lenkten ein und trugen die Entscheidung der Regierung - für die Zusage einer beschleunigten Energiewende - am Ende mit.
Der Schritt löst an Rhein und Ruhr Ängste aus. Tihange ist gerade einmal 60 Kilometer von Aachen entfernt, und das bei Antwerpen gelegene Doel befindet sich ebenfalls praktisch nebenan. In all der Aufregung um die Entscheidung in Brüssel ging freilich unter, dass es die beiden jüngsten der insgesamt sieben belgischen Reaktoren sind, die länger am Netz bleiben sollen.
Vor allem der "Schrottreaktor" Tihange 2 macht Angst
Der seit Jahren andauernde Anti-AKW-Protest in der Städteregion Aachen fokussierte sich bislang auf den sogenannten Schrottmeiler Tihange 2, bei dem kleine Risse im Betonschutz festgestellt worden waren. Zu dessen Sicherheit gibt es völlig unterschiedliche Einschätzungen auf deutscher und auf belgischer Seite.
„Um verlorenes Vertrauen in die Sicherheit der dann am Ede 50 Jahre alten Anlagen zurückzugewinnen, werden wir auf Transparenz bei der Entscheidung, eine umfassende grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung und strenge Maßstäbe bei der umfassenden Sicherheitsüberprüfung drängen“, hieß es in einer Mitteilung des NRW-Wirtschaftsministeriums.
Dass sich Belgien aber nur ungern von Nordrhein-Westfalen in seine Energiefragen reinreden lässt, musste schon der frühere NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) erfahren. Anfang 2018 reiste er mit großem Gefolge nach Brüssel, um die Nachbarn öffentlichkeitswirksam von der Abschaltung der problematischen Atomreaktoren Tihange 2 und Doel 3 zu überzeugen.
Laschet kam in Brüssel schon einmal nicht weiter
Am Ende trat Laschet mit leeren Händen vor die Mikrofone: „Energiepreise in Belgien sind niedriger als die in Deutschland. Das wird als Wettbewerbsvorteil betrachtet. Insofern brauchen wir da gute Argumente, wenn wir auf ein schnelleres Ende, insbesondere von Doel 3 und Tihange 2, also zwei spezielle Blöcke, in Zukunft drängen.“ Sein Gastgeber Charles Michel, heute EU-Ratspräsident, trat erst gar nicht mit Laschet vor die Kameras. Die Opposition in Düsseldorf rieb der Landesregierung das PR-Debakel lange unter die Nase.
Inzwischen ist die politische Lage sogar noch vertrackter. Die belgische Entscheidung könnte die Atomenergie angesichts hochschießender Gas- und Ölpreise infolge des Ukraine-Krieges auch in Deutschland wieder auf die Tagesordnung bringen. In den Sozialen Netzwerken wurde am Sonntag bereits gefragt, warum man die eigenen sicheren Meiler Ende des Jahres vom Netz nehme, wenn Bröckel-Reaktoren beim Nachbarn bis 2035 Strom produzieren dürften. Dabei galt die AKK-Debatte in Deutschland doch als tot.
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Ministerpräsident Wüst ist auf solche Diskussionen bislang nicht eingestiegen. Sein Wirtschaftsminister Pinkwart forderte zumindest, Energiefragen ohne Tabus neu zu bewerten. Grünen-Chefin Neubaur versucht derweil, den Scheinwerfer in eine andere Richtung zu drehen: Das Land müsse jetzt endlich die Verhinderung von Erneuerbaren Energien, wie etwa die umstrittene 1000-Meter-Abstandsvorgabe für Windräder, aufgeben.