Essen. Die Neureligion Shinchonji war bisher ein Randphänomen. Jetzt schlagen Sektenexperten Alarm. Sie sehen “Unterwanderungsversuche“.
Vernachlässigung von Familie und Freunden; Abbruch sozialer Kontakte bis hin zum Jobverlust; Missionierungspraktiken, die an Stasi-Methoden erinnern: Mit solchen drastischen Beschreibungen warnen Sektenkenner aus NRW vor der in Deutschland wenig bekannten christlich-fundamentalistischen Neureligion Shinchonji.
Angehörige der ursprünglich aus Südkorea stammenden Sekte versuchten derzeit gezielt, speziell Kirchengemeinden und studentische Kreise im Ruhrgebiet zu unterwandern, berichten der Verein Sekten Info NRW in Essen und der Weltanschauungsbeauftragte der Evangelischen Kirche Westfalen, Andreas Hahn.
Kein Phänomen mehr nur in Fußgängerzonen
„Shinchonji verursacht zur Zeit einen Beratungsbedarf, den wir in dieser Art so noch nicht erlebt haben“, sagte Hahn dieser Zeitung. Gerade in letzter Zeit treten Anhänger der vor knapp 40 Jahren von dem südkoreanischen Prediger Lee Man-hee gegründeten Glaubensgemeinschaft laut Hahn immer offensiver in Erscheinung. Sie begnügten sich nicht mehr damit, wie noch in den vergangenen Jahren Menschen nur in Fußgängerzonen anzusprechen.
„Wir erhalten zahlreiche Rückmeldungen aus unseren Gemeinden. Dort werden Mitglieder von Gemeinderäten, Verwaltungsangestellte und selbst Pfarrer offenbar planmäßig abtelefoniert und von Shinchonji-Anhängern zur Teilnahme an Veranstaltungen und Bibelstunden aufgefordert“, so Hahn. Schwerpunkt der Shinchonji-Missionstätigkeit im Ruhrgebiet seien Essen und Dortmund. Hinweise gebe es auch aus Witten und Gelsenkirchen.
Aussteiger berichten von großem psychologischen und zeitlichen Druck
Der evangelische Sektenbeauftragte warnt davor, die Methoden der zahlenmäßig kleinen Shinchonji-Gemeinschaften auf die leichte Schulter zu nehmen. „Aussteiger berichten von großem psychologischen und zeitlichen Druck, der auf Shinchonji-Anhänger lastet“, sagt Hahn. So müssten Neu-Mitglieder an bis zu vier Abenden in der Woche Bibelkurse belegen und würden zu weiteren Veranstaltungen an den Wochenenden herangezogen. „Ein soziales Leben außerhalb der Glaubensgemeinschaft ist so faktisch nicht mehr möglich“, warnt Hahn. Am Ende stünden nicht nur Freundschaften auf dem Spiel, auch Familie, Job oder Studium würden vernachlässigt. Hahn: „Die Betroffenen sind physisch erschöpft und stehen vor dem Burnout.“
Auch die Sekten-Info NRW spricht von einem enorm hohen Zeitaufwand, der von Shinchonji für die Bibelarbeit eingefordert werde. Wer dem nicht Stand halte und die Gruppe verlassen wolle, dem werde gedroht, dass er auf ewig verloren sei.
Hauptbasis in Berlin und Frankfurt
Sekten-Experten kritisieren zudem, dass Shinchonji mit „spionagehaften“ Methoden arbeite. „Die Aggressivität des Auftretens, die fast militärisch-strategisch anmutende Missionierungstaktik sowie die Intransparenz bis hin zu Falschdarstellungen und Täuschungen führen zu einer hohen Dichte an Beratungsanfragen“, heißt es in einem Informationsblatt der evangelischen Kirche in Hessen, wo Shinchonji laut den Angaben schon länger aktiv ist. Frankfurt gilt neben Berlin als Hauptbasis der Sekte in Deutschland.
Unverfängliche Tarnnamen
Auch in NRW sei die Sekte immer wieder unter eher unverfänglichen Tarnnamen aufgetreten und spioniere Mitglieder regelrecht aus, berichtet Sektenkenner Hahn. „Wir hören, dass in den Einsteiger-Bibelkursen bis zu einem Drittel der Teilnehmer gar keine Einsteiger sind, sondern Shinchonji-Insider, die Vertrauen aufbauen sollen, um an private Informationen der tatsächlichen Anfänger zu kommen“. Hahn spricht von „strategischer Raffinesse“ und rät Aussteigern dringend dazu, alle Kontaktdaten zu ändern.
Exklusiver Wahrheitsanspruch
Dass eine Glaubensrichtung wie Shinchonji mit ihrem simple anmutenden Himmel-und-Hölle-Dualismus, einem exklusiven Wahrheitsanspruch und einer befremdlich wirkenden Endzeit-Philosophie in aufgeklärten Gesellschaften wie Deutschland überhaupt Fuß fassen kann, erklärt Andreas Hahn mit einer in Teilen der Bevölkerung weit verbreiteten Sehnsucht nach Einfachheit. „Wir leben in einer pluralistischen Welt. Davon sind manche Menschen überfordert.“ Gruppen wie Shinchonji machten sich, so der Sektenkenner, diesen Umstand zu Nutze. Hahn: „Sie bieten eine sehr spezielle religiöse Orientierung an, die die Dinge überschaubar erscheinen lassen.“
Schlagzeilen in Südkorea
In Südkorea geriet die Shinchonji-Gemeinschaft 2020 in die Schlagzeilen. Ein heftiger Corona-Ausbruch in der Millionenstadt Daegu wurde auf den Umgang von Sektenmitgliedern mit Hygienemaßnahmen zurückgeführt. Sektengründer Lee Man-hee entschuldigte sich später dafür. Die Religionsgemeinschaft hat in Südkorea Zehntausende Anhänger.