Dortmund. Guter Distanzunterricht war in der Pandemie „Glückssache“, sagt die Forscherin Ricarda Steinmayr. Nötig seien klare Vorgaben für die Lehrkräfte.
Es war ausgerechnet Freitag der 13., als im März 2020 beim ersten Lockdown die Schulen geschlossen wurden. Viele Schülerinnen und Schüler erlebten anschließend einen mehr oder weniger frustrierenden Wechsel zwischen Präsenz-, Wechsel- und Fernunterricht. Lüften, Tests und Masken gehörten fortan zum Alltag. „Das Datum werde ich nie vergessen“, sagt Ricarda Steinmayr. In zwei großen Studien untersuchte die Professorin für Pädagogische Psychologie an der TU Dortmund und Mutter von zwei schulpflichtigen Söhnen die Qualität des Distanzunterrichts, befragte dafür in zwei Studien rund 6200 Eltern. Im Gespräch mit Christopher Onkelbach berichtet die Forscherin, warum sie von einigen Ergebnissen erschrocken war.
Frau Prof. Steinmayr, wie fällt für Sie die Bilanz Ihrer Studie „Qualität von Homeschooling“ aus?
Ricarda Steinmayr: Ganz spontan: Unterricht ist durch Digitalisierung nicht zu ersetzen. Man kann zwar mit Hilfe der Technik einiges auffangen, aber den Präsenzunterricht keinesfalls gleichwertig ersetzen. Vor allem nicht in der Form, wie es in einigen Schulen gelaufen ist.
Was meinen Sie damit?
Wir haben eine große Diskrepanz zwischen den Schulen bei der Umsetzung des Fernunterrichts festgestellt, manchmal sogar von Klasse zu Klasse. Einige Schulen haben es ganz hervorragend gemacht und den Stundenplan eins zu eins per Video-Unterricht umgesetzt. Andere haben es gar nicht hinbekommen, nicht einmal im zweiten Lockdown ab Dezember, und haben weiter nur Aufgaben verschickt. Und was ebenfalls sehr problematisch ist: viele Schülerinnen und Schüler erhielten von ihren Lehrern wenig Rückmeldung und Feedback. Insgesamt waren die Unterschiede schon enorm groß, das war zum Teil erschreckend.
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Was waren die Gründe für die Unterschiede?
Da gibt es mehrere Faktoren. Ein wichtiger Grund ist sicherlich, dass die Landesregierung den Schulen keine Vorgaben zur konkreten Umsetzung des Distanzunterrichts gemacht hat. Den Schulen und Lehrkräften blieb es weitgehend selbst überlassen, wie sie den Unterricht gestalten. Auch waren die technischen Voraussetzungen vielerorts nicht gegeben. Nicht einmal bis zum zweiten Lockdown verfügten alle Schülerinnen und Schüler über digitale Endgeräte, obwohl Monate vergangen waren. Manche Schulleiterinnen und Schulleiter waren der Auffassung, wenn nicht alle ein Gerät haben, dann können wir auch keinen Video-Unterricht machen und dann wurden weiter vor allem Aufgaben verschickt.
Fehlte es womöglich auch am Engagement der Lehrkräfte?
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Bei einigen Lehrkräften wird das auch eine Rolle gespielt haben. Selbst Schulen, die den Unterricht weitestgehend dem Stundenplan entsprechend online umgesetzt haben, die dennoch keinen Unterricht online gaben. Wo Schulleitungen den Kollegen freigestellt haben, ob und wie sie Video-Unterricht anbieten, ist es schon schwer zu überprüfen, was läuft und was nicht. Sicher, einige Lehrkräfte haben sich aufgeopfert, andere aber sind einfach abgetaucht.
Fehlte da die Kontrolle?
Je unklarer die Anweisungen und Vorgaben sind, desto größer werden die Freiheiten, die Aufgaben zu interpretieren. Selbst Lehrkräfte klagten darüber, dass einige ihrer Kolleginnen und Kollegen abgetaucht seien. Solche Mitarbeiter gibt es sicher in jedem Beruf, aber in der Pandemie fiel es bei den Lehrkräften eben besonders auf.
Gutes Homeschooling war also für die Schüler eher Glückssache?
Ja. Es hing viel von den Schulleitungen und dem Engagement einzelner Lehrkräfte ab. Wenn Schulleiter vorgaben, wir machen den Stundenplan eins zu ein per Video, dann haben die allermeisten Kollegen auch mitgezogen. An anderen Schulen war es dann Glückssache, ob sich Lehrer dafür begeistern ließen. Dazu kommt, dass auch manche Schulleitungen nichts von Distanzunterricht per Video halten.
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Warum nicht?
Nun, Schule findet seit Jahrhunderten in Gemeinschaft statt. Eine Lehrkraft steht in der Regel vorne vor der Tafel und die Schülerinnen und Schüler sitzen in der Klasse. Das wurde von einem Tag auf den anderen umgeworfen. Das war eine neue Situation, für die es keine Konzepte, keine Erlasse, keine Didaktik und keine Technik gab. Viele Lehrkräfte haben sich völlig überfordert gefühlt.
Gab es Unterschiede zwischen den Schulformen?
Ja, an Grundschulen kann man den Stundenplan nicht komplett digital abarbeiten, so lange können sich Kinder nicht konzentrieren. Viel mehr als eine Stunde Deutsch und eine Stunde Mathe am Tag schafft man kaum. Aber auch hier gab es große Unterschiede. Manche Grundschulen haben sich sehr engagiert, Kontakt gehalten und Schüler, die es brauchten, in die Notbetreuung geholt. Manche haben zwischen den Schulschließungen mit den Kindern „Lockdown“ geübt, um zu sehen, wo es hakt. Es gab aber auch Grundschulen, die überhaupt keinen Video-Unterricht gemacht haben.
Haben die Schulschließungen zu Lernrückständen bei den Schülern geführt?
In Deutschland haben wir dazu noch keine belastbaren Studien. Aber in den Niederlanden hat man bei Routinetests die Leistungen des „Corona-Jahrgangs“ mit dem Jahrgang zuvor verglichen. Danach waren die Defizite in etwa so groß, wie es der ausgefallenen Unterrichtszeit entsprach. Mit anderen Worten: Die Schülerinnen und Schüler hatten in diesen Phasen im Schnitt so gut wie nichts gelernt.
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Welche Schüler und Familien haben besonders unter den Schulschließungen gelitten?
Nach der Studie waren die Rückstände bei den Kindern aus bildungsfernen Familien besonders groß. Das wird auch für Deutschland zutreffen. Die soziale Kluft in der Bildung wird durch Corona sicher größer. Und dies wird Auswirkungen auf die Bildungschancen haben. Wenn Schülerinnen und Schüler in der Grundschule wenig gefördert wurden, haben es Kinder aus bildungsfernen Familien noch schwerer, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Ich fürchte, die Bildungschancen dieser Gruppe haben sich weiter verschlechtert.
Welche Lehren kann man aus dem vergangenen Jahr für die Schulen ziehen?
Da gib es mehrere Punkte. Die technische Ausstattung der Schulen muss verbessert werden. Mancherorts gibt es immer noch kein ausreichend schnelles Internet, so dass Hybrid-Unterricht an den wenigsten Schulen umgesetzt wurde. Alle Schülerinnen und Schüler sollten Endgeräte besitzen. Und die Bürokratie müsste abgebaut werden. Es ist zwar Geld im Digitalpakt da, aber es ist viel zu umständlich, daran zu kommen. Ganz wichtig ist aber: Die Schulen brauchen von der Landesregierung klare Vorgaben für den Distanzunterricht.
Wie meinen Sie das konkret?
Es gab bisher zu viele Freiheiten bei der Umsetzung des Homeschooling, und diese wurden unterschiedlich ausgelegt. Die Schulleitungen müssen Vorgaben an die Hand bekommen, welches Fach wie viele Stunden per Video-Konferenz zu unterrichten ist. Aufgaben per Mail zu verschicken, muss die absolute Ausnahme sein.
Gibt es aus Ihrer Sicht auch positive Erfahrungen?
Auf jeden Fall! Einigen Schulen ist es großartig gelungen, Fernunterricht umzusetzen und haben sich um die Kinder intensiv gekümmert. Aber leider waren das zu wenige.