Essen. Schulpsychologe Uwe Sonneborn warnt vor den Folgen des Lockdowns. „Verhaltensauffälligkeiten und Suizidgefahr nehmen enorm zu“

2,5 Millionen Schüler in NRW müssen bis Ende Januar zu Hause lernen. Das heißt, sie bekommen größtenteils per Mail oder Lernplattform die Aufgaben geschickt, die sie allein lösen sollen. Schmerzhaft aber notwendig – so lauten die ersten Reaktionen auf die verschärften Corona-Maßnahmen der Landesregierung. Doch wie erleben Kinder und Jugendliche den erneuten Lockdown? Welche Folgen hat dies für ihre Psyche und ihre Bildungsfortschritte? Darüber sprach Christopher Onkelbach mit Uwe Sonneborn, im Vorstand des Landesverbands Schulpsychologie NRW.

Herr Sonneborn, im Oktober sagten Sie, ein zweiter Lockdown könne für viele Schüler fatale Folgen haben. Nun ist der Fall eingetreten, was geschieht jetzt?

Uwe Sonneborn: Die Auswirkungen der bisherigen Schulschließungen sehen wir bereits seit einiger Zeit. Die Zahl der Kinder mit psychischen Auffälligkeiten nimmt enorm zu. Und ich höre immer häufiger von Kindern, die suizidgefährdet sind oder entsprechende Andeutungen machen. Das ist derzeit ein großes Thema - auch bei den Schulsozialarbeitern.

Warum sind manche Kinder so verzweifelt, dass sie solche Gedanken äußern?

Diplom-Psychologe Uwe Sonneborn, im Vorstand des Landesverbands Schulpsychologie NRW.
Diplom-Psychologe Uwe Sonneborn, im Vorstand des Landesverbands Schulpsychologie NRW. © Handout | Landesverbands Schulpsychologie NRW

Vielen Schülern fehlen die Perspektive und die Sicherheit gebenden schulischen Strukturen. Sie steigen irgendwann aus und sagen: ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Man darf nicht vergessen, es geht jetzt auch um Noten und Abschlüsse. Schaffe ich das? Wird ein „Notabitur“ überhaupt anerkannt? Kann ich damit studieren? Viele Jugendlichen haben große Sorgen um ihre Zukunft.

Aber die Klassenarbeiten sind doch vorerst ausgesetzt, nimmt das nicht den Druck?

Nein, es ist zu beobachten, dass viele Schüler trotzdem unter enormem Leistungsdruck stehen. Sie wissen aber nicht genau, wo sie stehen und ob ihr Wissen ausreicht. Auch die Lehrer haben großen Druck mit Blick auf Klassenziele und schulische Inhalte, die Eltern sind in Sorge, manche haben finanzielle Probleme. Jüngere Kinder klagen über Einsamkeit, ihnen fehlt der Austausch mit Gleichaltrigen. Durch die aktuellen Umgangsregeln wird dies nochmals verschärft. Das alles ist eine massive Überforderung für viele Kinder und Jugendliche und wirft ein Schlaglicht auf die wachsenden depressiven Tendenzen, die wir beobachten.

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Welche Folgen wird der Lockdown haben?

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Man muss sich fragen, ob die Kur nicht schlimmer ist als die Krankheit. Bewegungsmangel, Vereinsamung, psychische Belastung, exzessiver Medienkonsum, zum Teil auch Wohlstands-Verwahrlosung. Viele Kinder bleiben jetzt wieder wochenlang sich selbst überlassen. Manche ziehen sich zurück, stumpfen ab, sind frustriert. Andere reagieren in ihrer Not aggressiv und werden so verhaltensauffällig. Ich kann aber den Höhlenkoller in manchen Familien gut verstehen, die mit mehreren Kindern in einer kleinen Etagenwohnung zurechtkommen müssen.

Wie kommen Schüler aus schwierigen Verhältnissen mit den Schulschließungen klar?

Vor allem diese Kinder und Jugendlichen leiden besonders darunter. Zu manchen Schülern haben die Lehrer im ersten Lockdown komplett den Kontakt verloren. Da wusste man nicht, wie es ihnen geht und was sie erleben. Hinzu kommen Probleme zu Hause, etwa Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit oder finanzielle Engpässe. Ich weiß von Familien, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Die psychischen Folgen für die Kinder werden erst später ans Licht kommen - wenn überhaupt. Das macht mir große Sorgen.

Können Schulpsychologen das auffangen?

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Das übersteigt die Möglichkeiten der Schulpsychologie bei weitem und betrifft auch Jugendämter, Kinder- und Jugendpsychiatrien. Was sage ich denn dem Jungen, um den sich nur noch der Opa kümmert, weil er seinen Vater nicht kennt und sich seine Mutter nicht für ihn interessiert? Der hat jetzt auch wegen Corona furchtbare Angst um seinen Opa, weil er sonst völlig alleine wäre. Die Schule konnte solche Fälle bislang noch zu einem gewissen Grad auffangen. Das fällt inzwischen weg.

Wird die Bildungsschere zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Schülern weiter aufklaffen?

Ja, die Schere geht noch weiter auseinander. Das haben wir ja schon im Laufe des vergangenen Jahres gesehen. Es gibt nicht wenige Eltern, die sich nicht sonderlich um die Entwicklung ihrer Kinder kümmern, aus welchen Gründen auch immer. Hier hat die Schule bisher oft eine Ausfallbürgschaft übernommen. Der Wegfall individueller schulischer Fördermaßnahmen lässt den Corona-Gap noch größer werden.

Lässt sich das wieder aufholen?

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Man kann im Grunde fast ein ganzes Schuljahr abhaken. Das ist vor allem für Grundschüler sehr viel. Die Lehrkräfte können diese Unterschiede zwischen den Kindern oft nicht mehr auffangen. Distanzunterricht kann kein Ersatz sein für den Unterricht in der Klasse. Denn Lernen heißt ja nicht nur, Stoff zu vermitteln. Lernen ist ein sozialer Vorgang. Die Kinder lernen von- und miteinander, bekommen so Leistungsanreize und Orientierung. Wie hast du das gemacht - zeig mir das mal. Das ist sehr wichtig für den Lernerfolg. Dieses soziale Lernen fehlt jetzt. Die Schüler müssen sich quasi selbst unterrichten.

Müssten nun die Anforderungen gesenkt werden?

Die Lehrkräfte verspüren den Druck, den verpassten Lernstoff aufzuholen und zu vermitteln. Doch der Begriff des Klassenziels wird aus meiner Sicht immer absurder. Zumal es beim Lernen auf Distanz auch große Unterschiede zwischen den Schulen und auch den einzelnen Lehrkräften gibt. Man müsste jetzt überlegen, wie die Standards angepasst werden können, um den Druck auf die Schüler und die Lehrer zu reduzieren. Das Abitur kann nach meiner Ansicht kein normales Abitur werden, das erscheint mir unrealistisch.

Was können Sie Eltern und Schülern jetzt raten?

Der Schulbetrieb müsste so schnell wie möglich wieder beginnen, um schlimmere Folgen zu vermeiden. Ob es zielführend ist, pauschal sämtliche Schulen für drei Wochen komplett zu schließen, ist die Frage. Auch Maßnahmen wie versetzte Schulzeiten, Wechselunterricht oder mehr Schulbusse hätten Schulen sicherer machen können. An die Lehrkräfte möchte ich unbedingt appellieren, den Kontakt zu den Schülern sicherzustellen und im Blick zu behalten, wie es ihnen geht.

>>> Zur Person:

  • Uwe Sonneborn ist Diplom-Psychologe und Mitglied im Vorstand des Landesverbands Schulpsychologie NRW.
  • Er berät Eltern, Lehrkräfte und Schüler in Krisensituationen.
  • Bereits im Sommer haben seine Verbandskollegen und er in einem offenen Brief an Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) vor den sozial-emotionalen Folgen der Schulschließungen gewarnt.

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